Kein Augenblick zu früh (German Edition)
schnell herausfinden, wer ich war, und an mir herumexperimentieren. Aber was würden sie mit Alex machen? Ich wagte nicht zu fragen. Nein, es war besser, das Thema zu wechseln.
»Na gut, dann bist du jetzt John Bartlett und ich bin Emily Roberts«, sagte ich. Das waren die Namen in unseren neuen Pässen. »Aber bist du auch sicher, dass sie uns nicht mehr finden können?«
»Ja. Trotzdem müssen wir vorsichtig sein, wenn wir in die Staaten zurückfahren. Sie werden die Grenze scharf bewachen, nachdem sie jetzt wissen, dass wir in Mexiko sind.«
Eine Zeit lang schwiegen wir, schaukelten leicht in der Abendbrise. Dann schob er sanft meinen Kopf herum, sodass er mich anschauen konnte. »Sag mir noch mal genau, was Demos dir erzählt hat.«
Es fiel mir nicht schwer, mir das Gespräch in Erinnerung zu rufen. Seit wir auf der Flucht waren, war ich es wieder und wieder durchgegangen. Und natürlich hatte ich Alex schon von Demos und meiner Mutter erzählt: Wie Demos seit Jahren alles daransetzte, sich dafür zu rächen, dass die Einheit meine Mutter getötet hatte. Dass er sie geliebt hatte; dass sie ihn um Hilfe gebeten hatte, als sie nicht mehr weiterwusste, nur ein paar Tage, bevor die Einheit sie tötete … oder so getan hatte, als wäre sie ermordet worden. Noch immer begriff ich nicht, wie sie es geschafft hatten, den Mord vorzutäuschen. Allerdings stand diese Frage ganz unten auf meiner Liste. Vor zehn Tagen hatte ich nicht mal gewusst, dass es noch viele andere Leute gab, die so waren wie ich – und dann plötzlich, innerhalb von Stunden, hatte sich alles, was ich bis dahin geglaubt oder angeblich gewusst hatte, als Lüge entpuppt. Das musste auch Alex wie ein Schockerlebnis vorkommen, vielleicht wollte er deshalb alles noch einmal hören.
»Demos hat Mum geliebt. Ich konnte es nicht glauben, bis er mir ein Foto zeigte, auf dem sie zusammen zu sehen waren. Dann plötzlich wurde mir alles klar. Ich sah es in seinem Blick, Alex, wie er mich anschaute – in diesem Moment sah er nicht mich, sondern sie. Ich erinnere ihn an sie. Es ist, als ob seine Liebe immer noch dicht unter der Oberfläche schlummert.«
»Du siehst ihr sehr ähnlich. Das hab ich dir auch schon gesagt.«
Ich setzte mich ruckartig auf und schwang die Beine über den Rand der Hängematte, sodass wir heftig ins Schaukeln gerieten. »Was machen sie mit Mum, Alex?«
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich die Frage nicht zu stellen gewagt. Auch jetzt zog sich etwas in meiner Brust zusammen, hart wie Stein.
Alex legte mir den Arm um die Schultern. »Ich weiß es nicht«, sagte er leise. »Ehrlich – wir wussten nicht einmal, dass sie Experimente durchführen. Wir wussten nur, dass sie Gefangene halten, Leute wie …« Er brach plötzlich ab.
»Leute wie mich?«, ergänzte ich scharf.
Er seufzte. »Ja, Leute wie dich, aber Leute, die Verbrechen begangen hatten. Jedenfalls glaubten wir das. Leute, die man nicht in einem normalen Gefängnis unterbringen konnte.«
»Ich habe ihn gesehen«, unterbrach ich ihn.
Alex schwieg, aber ich wusste, dass auch er in diesem Moment Thomas vor Augen hatte – die Gestalt, kaum mehr als ein Bündel Kleider, die Jack beim Gefangenenaustausch im Joshua-Tree-Park aus dem Auto gezerrt hatte, eine Art Zombie, verkrümmt und zerstört. Fünf Jahre hatte die Einheit Thomas gefangen gehalten. Der Himmel mochte wissen, was sie mit ihm gemacht hatten, um herauszufinden, was vor sich ging, wenn er sich teleportierte – wenn er sich aus seinem Körper entfernte. Ich hatte versucht, mir vorzustellen, wie solche Experimente durchgeführt wurden. Aber wann immer ich darüber nachdachte, kam es mir so vor, als spähte ich nach einem entsetzlichen Unfall durch das Fenster eines der verunglückten Autos – mit jeder Faser sträubte sich der Körper dagegen, sehen zu müssen, was sich im Innern abgespielt hatte.
Alex seufzte. Er ließ sich in die Hängematte zurückfallen und blickte in den Nachthimmel.
»Das machen sie doch bestimmt auch mit Mum?«, fragte ich.
Er zögerte lange mit der Antwort. »Vermutlich ja.«
Ich sprang von der Matte und trat an das Verandageländer. Erschüttert starrte ich zum Strand hinunter. Sanft schlugen die Wellen ans Ufer, als streckten sie sich nach uns aus. Alex trat neben mich und zog mich in seine Arme.
»Sie lebt, Lila. Nur daran darfst du denken. Vor einer Woche warst du noch überzeugt, dass sie tot ist. Aber du wirst sie wiedersehen.«
»Wie denn?«, schrie ich und riss mich
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