Kein Augenblick zu früh (German Edition)
vergleichen. Jedenfalls ist dafür ein bestimmtes Gen verantwortlich, das aber nur bei einem winzigen Bruchteil der Bevölkerung vorkommt und meistens inaktiv bleibt. Aber manchmal wird es eben doch aktiv, und dann wird dieser Mensch so wie … wie Demos.«
Und wie Mum . Das wusste er doch oder hatte er es schon vergessen?
»Aha. Und du willst versuchen, die Sache zu heilen, wie man Krebs heilen will?«
»Ja«, nickte er, offenbar erfreut, dass ich wenigstens das kapiert hatte.
Ich konnte nicht mehr still sitzen, sprang auf und trat an Jacks Bett. »Du willst also für die Einheit arbeiten?«
»Na ja, anscheinend haben wir dasselbe Ziel. Wäre doch dumm, wenn wir nicht zusammenarbeiten würden.«
»Aber du wolltest doch nie mehr in den USA leben«, sagte ich anklagend.
»Vielleicht habe ich mich geirrt. Jack ist ja auch hier geblieben. Weil er herausfinden wollte, wer deine Mutter umgebracht hat. Aber ich ging weg. Ich wollte dich schützen. Musste dich schützen.«
»Ja, weiß ich. Trotzdem warst du sehr wütend auf Jack, als er sich von der Einheit rekrutieren ließ.«
Dad seufzte. »Weil ich immer Angst hatte, dass ihm genau das passieren würde. Er war ja fast ein Kind, ging noch aufs College. Natürlich war ich wütend, als er seine Ausbildung hinschmiss. Außerdem war es nicht seine Aufgabe, Demos auszuschalten, sondern meine.«
Ich presste die Lippen zusammen.
»Da ist noch etwas, Lila …«
Ich wandte mich ab. Ich ahnte, was er nun sagen würde, und mein Magen verkrampfte sich.
»Sie würden alle Anklagepunkte gegen Jack fallen lassen«, fuhr Dad fort. »Es würde nur eine interne Untersuchung geben, keine strafrechtliche Anklage. Er wäre ein freier Mann.« Dad zuckte die Schultern. Sein Anzug war stark zerknittert. »Natürlich alles unter der Bedingung, dass ich den Arbeitsvertrag unterschreibe.«
Ich starrte ihn wortlos an. Sie erpressten ihn!
»Ich würde alles tun, um euch beide zu schützen«, murmelte er leise.
21
Ich warf einen Blick auf die Uhr – mehr als vierundzwanzig Stunden waren seit meiner Rückkehr ins Camp vergangen. Das hieß, dass Alex bereits irgendwo in der Nähe sein musste. In meinem Bauch flatterte es und ich fühlte mich plötzlich mutiger – vielleicht war das Unmögliche doch möglich. Ich schloss die Augen und träumte vom Meer, von Alex’ Lippen, seinen sanften Berührungen im Wasser …
»Was ist los?«, unterbrach Dad meine Träumereien. »Du hast gestöhnt – hast du Kopfweh?«
»Nein, nein. Alles okay.« Mein Gesicht glühte wie ein Heizradiator, zum Glück war es hier auf der Veranda fast dunkel. Verlegen stand ich auf. »Ich geh rauf in mein Zimmer.«
Mein Vater nickte, schaltete das Licht ein und griff nach seinen Papieren.
In meinem Zimmer ließ ich mich aufs Bett fallen und schob den Kopf unter das Kissen. Wie wollte Alex es schaffen, in meine Nähe zu kommen, solange draußen die Leute von der Einheit Wache schoben und das Haus mit Überwachungstechnik vollgestopft war? Ich setzte mich auf und blickte mich im Zimmer um. Gab es hier versteckte Kameras? Mein Blick fiel auf Alex’ T-Shirt – dasselbe, das ich in der ersten Nacht in Jacks Haus getragen hatte. Alex hatte mich in der Küche überrascht, als ich ein Glas Wasser holen wollte, und natürlich sofort erkannt, dass es früher ihm gehört hatte. Ich war fast gestorben vor Verlegenheit. Jetzt lag es ordentlich gefaltet neben mir auf dem Bett. Ich hatte es nicht dorthin gelegt. Und ordentlich gefaltet schon gar nicht.
Das war ein Zeichen – Alex war hier gewesen. Ich stand auf, lief zum Schrank und riss die Tür auf, ohne genau zu wissen, wonach ich suchte. Und war enttäuscht, als ich hinter Jacks Uniform und den alten Schuhschachteln keine Spur von Alex entdeckte. Ich warf die Bettdecke zurück: nichts. Dann hob ich das Kopfkissen an und da war es. Ein kleiner Zettel. Ich musste unwillkürlich lächeln.
1 Uhr. Fluchtweg kennst du ja. X
Ich runzelte die Stirn. Fluchtweg kennst du ja? Was sollte das heißen?
Dann fiel es mir ein. Ich war schon einmal aus diesem Zimmer entwischt, während Alex auf mich aufpassen sollte. Damals war ich über den Zaun in den Nachbargarten geklettert. Ich legte mich aufs Bett und grinste die Decke an. In ein paar Stunden würde ich wieder mit Alex zusammen sein.
Dad arbeitete bis spät in die Nacht. Ich bot an, ihm einen Becher heiße Milch zu bringen, aber er blickte nur flüchtig von seiner Arbeit auf und runzelte misstrauisch die Stirn. Ich
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