Kein Augenblick zu früh (German Edition)
her.
Mein Zorn richtete sich hauptsächlich gegen Jack, aber er züngelte auch in Alex’ Richtung. Was war mit all seinen wunderbaren Versprechungen passiert? Dass es unvermeidlich war, was zwischen uns geschah? Was war mit seinen Liebeserklärungen? Warum liebte er mich nicht mehr? Weil ich Jack herausgeholt hatte? Weil ich seinen Plan vermasselt hatte? Was hätte ich denn sonst tun sollen? Zulassen, dass die Einheit Jack wegbrachte? Konnte er nicht begreifen, dass ich keine Wahl gehabt hatte?
Ich war so sehr damit beschäftigt, wutentbrannt auf dem Deck herumzulaufen, dass ich die Welle zuerst gar nicht bemerkte. Sie war gut zwanzig Meter hoch und erschien wie aus dem Nichts. Das Meer war völlig ruhig gewesen – und jetzt, ohne Vorwarnung, wälzte sich eine Riesentsunami in unsere Richtung.
Dann begriff ich. Einen Herzschlag lang war ich sogar richtig stolz: Das habe ich gemacht! Bis mir klar wurde, dass wir dem Tod geweiht waren.
Ich packte die Reling und versuchte, die Welle zurückzudrängen. Kniff die Augen fest zu, konzentrierte mich mit aller Kraft darauf, flehte Gott oder wen auch immer um Hilfe an. Aber die Wassermoleküle waren zu glitschig, es war, als würde ich mich mit bloßen Händen gegen eine Wand aus Gelee stemmen. Ich bekam nichts zu fassen. Von unten hörte ich jemanden entsetzt schreien.
Ich konzentrierte mich wieder auf die Welle, die jetzt keine vierzig Meter mehr entfernt war. Meine Panik wuchs mit jeder Sekunde. Ich versuchte, mir das Meer flach, glatt und ruhig vorzustellen, und als das nichts nützte, rief ich mir das Bild vor Augen, wie das Wasser durch einen riesigen Abfluss verschwand. Und plötzlich beugte sich die Welle meinem Willen, fiel in sich zusammen, sodass ich sie wie ein unordentlich hingeworfenes Tischtuch auseinanderziehen und auf dem Meer ausbreiten konnte.
Ich starrte auf die See hinaus, dorthin, wo die Welle gewesen war. Ich zitterte am ganzen Körper. Hatte ich das getan? Wie? Ich hatte mir eingebildet, meine Kraft endlich unter Kontrolle zu haben, doch nun wurde mir klar, dass sie mir schlimmer denn je entglitten war. Mit dieser Macht konnte ich Naturkatastrophen auslösen, ohne es selbst zu merken. Besser, ich sah gar nicht mehr aufs Wasser. Ich presste die Augen zu, streckte die Arme vor mir aus und stolperte blind durch die Tür in den Fitnessraum.
»Warst du das?«
Ich fuhr fast aus der Haut vor Schreck und riss die Augen auf. Key stand in der Tür.
»Du hast das gemacht!«, sagte er kopfschüttelnd. Dann blickte er auf das Meer hinaus und murmelte etwas Unverständliches.
Ich biss mir auf die Unterlippe. »Tut mir leid, ich weiß nicht, wie …«
»Hast du deine Kraft denn immer noch nicht im Griff?«, schnitt er mir das Wort ab.
Lügen hatte keinen Zweck. Ich zuckte hilflos die Schultern.
»Lila, du musst dir mehr Mühe geben! Eine große Jacht ist nicht leicht zu steuern. Das Letzte, was ich brauche, sind Monsterwellen, die du mir vor den Bug wirfst!«
Ich nickte bedrückt. »Okay, ich gebe mir Mühe.«
»Na gut. Ach, übrigens, Lila, versteh mich bitte nicht falsch« – er wurde tatsächlich ein bisschen rot – »dein Schwesternoutfit steht dir wirklich super und alles, aber falls du trotzdem was anderes anziehen willst, hat Alex ein paar Klamotten für dich zurechtgelegt.«
»Äh, danke«, murmelte ich. Auf Jonas mochte mein Outfit bestens gewirkt haben, aber bei Alex hatte es keinerlei Reaktion ausgelöst. Plötzlich hatte ich es sehr eilig, das lächerliche Kleid loszuwerden.
»Übrigens – wohin fahren wir eigentlich?«, rief ich hinter Key her.
»Marina del Rey, in der Nähe von Santa Monica. Keine Ahnung, wo wir dort mit diesem Riesending ankern wollen, ohne dass uns jemand bemerkt, aber wir haben eben mit Demos verabredet, dass wir uns dort treffen.«
Ich stellte mich wieder an die Reling und blickte auf das stille Meer hinaus. Würde Alex von Bord gehen, sobald wir angelegt hatten? Wie konnte ich ihn davon abhalten? Wollte er überhaupt davon abgehalten werden? Oder hatte er mich schon völlig aufgegeben?
Erst musste ich diese idiotischen Klamotten loswerden, dann würde ich ihn zur Rede stellen. Er durfte nicht gehen. Wir brauchten ihn. Ich brauchte ihn.
Entschlossen trat ich durch die Tür, aus der Key gekommen war. Sie führte in eine große Kabine, in deren Mitte ein riesiges Bett stand – es bot Platz genug für sechs Leute. Eine Wand war völlig mit Spiegeln verkleidet, außerdem gab es einen großen
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