Kein Biss unter dieser Nummer
nicht.«
»Nein, das ist schon okay. Wir haben genügend Windeln in der Villa.« Für den Augenblick hatte Baby Jon mich völlig vergessen, so vertieft war er darin, Moms seltsame Sorge zu zerstreuen.
Ich will mich nicht selbst belügen: Es tat schon weh, Baby Jon bei ihr so glücklich zu sehen. Aber lieber hätte ich mir die Zunge abgebissen, als etwas zu sagen. Zum einen sollte ich froh darüber sein, dass mein kleiner Bruder geliebt und umsorgt wurde. Zum anderen war ich sowieso selbst schuld daran. Wenn ich ihn nicht immer bei meiner Mutter parken würde, würde er mich auch lieben. Er war meine einzige Chance, eine Mutter zu sein … und ich vermasselte alles.
Fairerweise muss man sagen, dass mich das jeweilige Desaster des Tages oft dazu zwang, alles stehen und liegen zu lassen und in die Nacht hinauszustürmen. Vampirköniginnen waren für mütterlichen Dauereinsatz denkbar ungeeignet. Daher hatte ich meine Mom gebeten, gelegentlich den Babysitterdienst zu übernehmen, obwohl ich wusste, dass sie das nicht gern tat. Baby Jon war der lebende Beweis, dass ihre Ehe Schiffbruch erlitten hatte. Doch sie wusste auch, dass sie keine andere Wahl hatte, wenn wir einen Plausch mit dem Jugendamt vermeiden wollten. Allein der Gedanke hätte mir Albträume verursacht, wenn ich noch träumen würde. (»Entschuldigen Sie, aber gemäß diesen Dokumenten sind Sie tot. Der Staat Minnesota hält nichts von toten Menschen als Vormund. Außerdem wirft Ihr Leichenstand noch einige weitere Fragen auf, also nehmen Sie doch bitte Platz!«
)
Anfangs war ihr die Kinderbetreuung nur eine lästige Pflicht gewesen, doch da Baby Jon nahezu unwiderstehlich ist, hatte Mom nach einer Weile von sich aus angeboten, ihn mir einen Tag oder eine Nacht abzunehmen. Seit ich den Zeitstrom verändert hatte, gefiel es ihr, Zeit mit dem süßen Baby Jon zu verbringen, und das nicht, um mir einen Gefallen damit zu tun. Ich fragte mich, ob sie so ähnlich fühlte wie ich – dass sie ihn womöglich als ihre einzige Chance betrachtete, Großmutter zu sein, wenn auch unter reichlich seltsamen Umständen. Jedenfalls hatte sie sich von einer grollenden, resignierten Frau zu einer liebenden Oma gewandelt.
Zum ersten Mal seit langer Zeit dachte ich an meinen verstorbenen Vater und fragte mich, was er wohl dazu sagen würde, dass der Sohn seiner zweiten Frau von seiner Exfrau großgezogen wurde.
Seiner zweiten Frau. Brrrr. Jetzt war nicht der rechte Zeitpunkt, um an Ant zu denken, die Frau mit dem Ananashaar (in Farbe und Konsistenz) und jeglichem Mangel an Stil. Und wenn jemand wie ich eine Bemerkung über Mangel an Stil macht, dann wissen Sie, dass diese Person einen wirklich, wirklich schlimmen Geschmack in Stilfragen haben muss.
Ich rüttelte mich innerlich auf. »Hör zu, wir sollten jetzt gehen. Wir müssen …«
»Weißt du was?«, fiel mir Mom ins Wort. »Könnte ich ihn nicht noch eine Nacht behalten wie ursprünglich geplant? Ich bring ihn dir morgen vorbei. Ich möchte Jessica gern selbst … ich möchte euch gern besuchen. Wenn es euch recht ist.«
Äußerst mutig.
Ich schaute zu Sinclair; sein Gedanke hatte mich laut und deutlich erreicht. Früher konnte ich keine Gedanken lesen. Dann konnte ich Sinclairs Gedanken lesen, aber zuerst nur beim Sex. Dann konnte ich seine Gedanken auch zu anderen Zeiten lesen. Dann konnte er auch meine Gedanken lesen. Wir nehmen an, dass es sich um so eine untote Monarcheneigenschaft handeln muss. Wir konnten uns beinahe immer verständigen, wenn wir uns nur stark genug darauf konzentrierten. Doch diesen verirrten Gedanken hatte ich ohne große Mühe verstehen können; er war wie eine Seifenblase, die aus dem Nichts auftauchte. Man ist überrascht, dass sie da ist, aber man weiß auch, warum sie da ist.
Wenn man bedenkt, dass sie bei ihrem letzten Besuch Zombie Marc und meinem älteren Ich gegenüberstand, ist »mutig« definitiv das richtige Wort.
Laut sagte ich: »Klar, Mom. Echt, wir wollten deine Pläne nicht durcheinanderbringen. Und Jess würde sich bestimmt freuen, dich zu sehen. Und wir könnten auch darüber reden …« Ich sah zu Cliiiiiive. »Wir könnten Neuigkeiten austauschen.«
Nachdem der Besuch abgemacht war, verabschiedeten wir uns. Baby Jon war begeistert, dass er noch bleiben durfte, und beklagte sich kaum, als wir gingen. Die ganze Zeit über hatte meine Mutter dieses seltsam besorgte Lächeln im Gesicht gehabt, das ihre Augen nicht erreichte.
Nun ja. Cliiiiiive als Freund zu haben
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