Kein Biss unter dieser Nummer
vielleicht die Kellertür aufreißen, den Truthahn in die Dunkelheit werfen und darauf hoffen, dass ihn niemand roch oder darüber stolperte? Nein. Besser, ich stand diesen Albtraum stillschweigend durch.
Ich. Hasse. Thanksgiving.
»Jessica hat’s vermasselt!«, schrie ich in der Sekunde, in der ich meine Mom erblickte. »Es ist ihre Schuld, nicht meine!« Hmmm. In meinem Kopf hatte das mutig geklungen und gar nicht panisch und weinerlich.
Erschrocken blieb meine Mom in der Tür stehen. »Ich bin sicher, da steckt mehr dahinter.« Sie hielt Baby Jon im Arm, der eine dunkelgrüne Fleecejacke und eine dazu farblich passende Hose trug und friedlich vor sich hin sabberte. Eine Windeltasche, so groß wie eine Couch, hing über ihrer Schulter. Sie machte gern Scherze darüber und behauptete, das Extragewicht sei eine gute Übung gegen die Osteoporose, die ihr im Alter bevorstand. Und wenn ich dann dachte, jetzt könne es nicht mehr schlimmer kommen, erinnerte sie mich (fröhlich!) daran, dass Buckel in ihrer Familie erblich seien. »Möglicherweise sind auch noch andere verantwortlich dafür. Ganz bestimmt sogar.«
»Aber ich nicht, stimmt’s?«
»Doch, du natürlich auch; immerhin bist du ihre beste Freundin, oder etwa nicht?« Zwischen Moms Augen bildete sich eine kleine Falte, doch ihr Mund lächelte immer noch. Sie war in der Lage, nur mit den Augen wütend zu werden. Das ist so Furcht einflößend, wie es klingt. »Ich denke, all das wäre nicht passiert, wenn du ein normaler Mensch wärst. Und, Schatz, ich liebe dich wirklich, aber du warst schon nicht normal, als du noch kein Vampir warst.«
»Äh, danke?«
»Meiner Ansicht nach musst daher du diejenige sein, die alles wieder in Ordnung bringt, denn ich habe keine Ahnung, wie das zu bewerkstelligen ist, und ich glaube, Jessica erkennt das Problem noch nicht einmal.«
»Ich glaube, das ist so nicht ganz richtig.« Habe ich etwa Miss Kugelbauch beauftragt, einen frischen Bio-Truthahn zu ordern? Nein. Habe ich ihr gesagt, sie solle sich den Unterkiefer ausrenken und den letzten Truthahn, den wir im Gefrierschrank haben, in sich reinstopfen? Nein. »Und fair ist es auch nicht.«
Mom hob die Augenbrauen, und ich bemerkte die dunklen Ringe unter ihren Augen. Ein Nachteil von hellem Haar und blassem Teint ist, dass man Müdigkeit, Pocken (egal, ob Wind- oder Kuhpocken) oder eine katerbedingte Blässe nur schwer verbergen kann. Mom hatte nicht gut geschlafen, und ich versuchte, meine Schuldgefühle zu verdrängen. »Fair? Betsy. Du bist jetzt Mitte dreißig.«
»Rein technisch gesehen bin ich eigentlich dreißig und werde das auch für immer bleiben.«
»Du bist auf alle Fälle alt genug, um zu wissen, was fair ist. Dieses Wort benutzen nur Kinder.«
»Okay, das ist fair.«
Argh!
»Ich meine, ich kann deinen Standpunkt nachvollziehen. Aber die Sache ist die, dass ich dieses Mal wirklich das Opfer bin. Als ich es herausfand, war es schon zu spät, um noch etwas daran zu ändern. Also liegt die Schuld allein bei Jess.«
»In diesem Fall solltest du dich schämen«, antwortete meine Mom mit einer Selbstverständlichkeit, die mich fassungslos machte. Sie meinte das nicht im Scherz. Und sie spielte mir auch kein Theater vor, wie Eltern das tun, wenn sie vorgeben, sie seien wütend auf ihr Kind, obwohl sie es insgeheim umso mehr lieben, wenn es Sachen gemacht hat, über die sie sich vorgeblich aufregen. »Offenbar bist du irgendwie zu der Ansicht gelangt, dass dieses Verhalten akzeptabel ist, und ich kann nicht an allem deinem verstorbenen Vater die Schuld geben. Also bin ich ebenfalls beschämt.«
»Nicht … Mom, sag das nicht!« Ich wusste nicht, wann ich das letzte Mal so erschrocken und verletzt gewesen war. Ich ging zu ihr und streckte die Arme aus. Baby Jon fing sofort an zu strampeln und bog sich mir mit einem »Glaarrgg!« entgegen. Ich drückte ihn kurz an mich, wohl wissend, dass ich das Baby aus einem spontanen Reflex heraus als Trostspender benutzte, und war doch zu aufgewühlt, als dass es mich groß gekümmert hätte. Er war trocken und – vielleicht lag es an dem Licht in der Küche? – sah ein wenig gelbsüchtig aus und roch nach Babylotion und Karotten. Ah! Also doch keine Gelbsucht. Eine Sorge weniger. Wie bekommt man überhaupt ein gelbsüchtig wirkendes Baby? Gibt man ihm Betacarotin-Smoothies in die Flasche? Oder legt man es unter eine Wärmelampe wie die Grillhähnchen aus dem Supermarkt? (»Hm, der braunhaarige Vierzehnpfünder dort
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