Kein Biss unter dieser Nummer
Jessica gab ein leidendes Seufzen von sich. »Wie soll man sich konzentrieren, wenn man ein Déjà-vu nach dem anderen erlebt?«
»Das ist ein frischer Bio-Truthahn einer alten Rasse.« Die Worte konnten mein Entsetzen nicht einmal annähernd ausdrücken. Ich warf den Vogel auf den Tresen und umklammerte ihn so fest, als wäre er
Der Meisterring
aus Truthahnfleisch (und Tryptophan, aber nicht genug, um müde zu machen), während ich Jess mit vorwurfsvollem Blick anschaute.
»Und? Wo ist das …«
»Dieses Ding …« Ich schüttelte den Truthahn in ihre Richtung. »Hat gelebt. Gelebt! Vor wie langer Zeit wohl? Noch vor zwei Tagen? Höchstens. Du hast einen frischen Bio-Truthahn bestellt! Oder vielleicht hatten sie ja auch zufällig einen frischen in dem Reiche-Mädchen-Supermarkt, in dem du einkaufen warst, während ich in dem anderen noch schnell die schreckliche Preiselbeersoße besorgt habe. Das ist ein Truthahn einer alten Rasse, ein
Royal Red
oder ein
Midget Palm
oder so was.« Als Marc mich nur verwundert anschaute, hätte ich fast geschrien: »Das ist kein
Butterball
-Truthahn, den man genetisch manipuliert und in engen Käfigen in seinem eigenen Dreck gehalten hat, ehe man ihn unter Qualen getötet und dann in der Kühltruhe eines Supermarktes wochenlang aufbewahrt hat! Und irgendwie hat
meine Mom
das herausgefunden!«
Für einen Moment saß Jessica wie erstarrt da, und ich dachte schon, dass ich ihre Erinnerung wohl mit einigen Details über das Leben von Dr. Elise Taylor auffrischen musste. Ich hielt ihre Reglosigkeit für Verständnislosigkeit und erkannte nicht, dass es sich in Wahrheit um aufsteigende Angst handelte. Mit einer fließenden Bewegung glitt sie vom Stuhl und war im Nu aus der Tür. Ich bewunderte sie um ihre Geschmeidigkeit, verfluchte sie aber auch dafür, dass sie mich Moms Zorn allein ausbaden lassen wollte.
»Was denn?« Marc schaute sich um, als rechnete er mit einem Mordanschlag. »Was ist denn los? Was wird deine Mutter denn tun? Warte mal, hab ich etwa gerade einen Adrenalinschub?« Er hielt inne, und ein seltsamer Ausdruck trat in sein Gesicht, als lauschte er auf irgendetwas in seinem Inneren. »Ja, den hab ich! Wuuu-huuu!«
Ich lauschte ebenfalls, denn ich wusste, dass mir die Zeit davonlief, und jawoll, da kam auch schon ein Auto die Auffahrt hinauf. Und das keineswegs so langsam und vorsichtig, als würde es von einer achtzigjährigen, von Schwindelanfällen geplagten Frau gefahren. Laura war es also nicht. Daher konnte es nur meine Mom sein, mit Baby Jon (sie hatte darauf bestanden, ihn gestern Abend wieder mitzunehmen) und (möge Gott uns in unserer dunkelsten Stunde beistehen!) Cliiiiiive.
»Flieh, solange du noch kannst!«, riet ich meinem Freund, der überrascht, verwirrt und verängstigt zugleich aussah. »Rette dich!«
»Ich verstehe nicht …«
»Nein, wirklich. Verschwinde so schnell wie möglich!« Nach einem prüfenden Blick in mein Gesicht sprang Marc auf und machte sich mit schnellen Zombieschritten aus dem Staub.
Betrübt stellte ich fest, dass ich mich dem Horror allein stellen musste. Noch dazu in Socken, denn mir blieb keine Zeit mehr, in machtvolle Stilettos zu schlüpfen. So schwer es mir auch fallen würde, in meinen Affensocken kühle Gleichgültigkeit vorzuschützen, es blieb mir leider nichts anderes übrig.
11
Tina ließ meine Mom ins Haus und düste sogleich wieder davon, um Tina-Sachen zu erledigen. Inzwischen zog ich ernsthaft in Betracht, den Truthahn verschwinden zu lassen und vorzugeben, dass ich von Anfang an vorgehabt hatte, Kürbiskuchen-Smoothies als Hauptspeise zu servieren (»Truthahn? Wieso Truthahn? Von welchem teuren Bio-Yuppie-Truthahn redest du überhaupt?«). Aber bei genauerer Überlegung kam mir das reichlich albern vor, und ich entschloss mich schließlich doch dazu, die Wahrheit zu sagen und mich dem Grauen zu stellen, das garantiert darauf folgen würde.
Außerdem, wie lässt man einen siebzehn Pfund schweren Truthahn in unter zehn Sekunden verschwinden? In den Hof werfen und darauf hoffen, dass die Welpen (deren Blasen so groß wie eine Centmünze sind, weswegen sie zweimal pro Stunde rausmüssen), nicht darüber herfallen? Die Tür zum nächsten Badezimmer aufreißen, ihn im Waschbecken versenken und darauf hoffen, dass keiner der Gäste die Toilette benutzen muss? (»Es tut mir leid, dass ich deine Mom getötet habe, aber geh da nicht rein! Du kannst unsere Toilette nicht benutzen. Geh weg da!«) Oder sollte ich
Weitere Kostenlose Bücher