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Kein böser Traum

Kein böser Traum

Titel: Kein böser Traum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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Sie würde Abstand halten. Sie konnte über ihr Handy jederzeit den Polizeinotruf wählen.
    War das nicht sicherer, als ihn entkommen zu lassen?
    »Charlaine?«
    Es war Mike. Er stand plötzlich da, in der Küche vor der Spüle und aß Cracker mit Erdnussbutter. Sie erstarrte kurz. Sein Blick erfasste sie prüfend, so wie nur er es konnte, wie nur er sie ansah. Sie fühlte sich zurückversetzt in ihre Zeit in Vanderbilt, als sie sich ineinander verliebt hatten. Die Art, wie er sie damals angesehen hatte, die Art, wie er sie jetzt ansah. Er war damals schlanker und verdammt gut aussehend gewesen. Doch der Blick, die Augen, waren dieselben geblieben.
    »Was ist los?«
    »Ich muss …« Sie hielt inne und schnappte nach Luft. »Ich muss noch mal weg.«
    Seine Augen. Prüfend. Sie erinnerte sich, wie sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte, an jenem sonnigen Tag im Centennial Park in Nashville. Wohin war es mit ihnen gekommen? Mike betrachtete sie noch immer. Er sah sie noch immer an, wie kein anderer sie jemals angesehen hatte. Einen Moment war Charlaine unfähig, sich zu bewegen. Sie war den Tränen nahe. Mike ließ die Cracker in die Spüle fallen und kam auf sie zu.
    »Ich fahre«, sagte Mike.

18
    Grace und der berühmte Rockmusiker Jimmy X waren allein im kombinierten Arbeits- und Spielzimmer ihres Hauses. Max’ Gameboy lag umgekippt auf dem Fußboden. Das Batteriefach war aufgebrochen und wurde von einem Klebeband zusammengehalten. Die Spielkassette, die wie ausgespuckt daneben lag,
trug den Titel »Super Mario 5« und wies für Graces ungeübtes Auge nicht den geringsten Unterschied zu Super Mario 1-4 auf.
    Cora hatte sie allein gelassen und spielte weiter Cyberdetektiv. Jimmy hatte noch kein Wort gesprochen. Er saß einfach nur mit gesenktem Kopf da, die Unterarme auf den Oberschenkeln, und erinnerte Grace an ihre erste Begegnung im Krankenzimmer, kurz nachdem sie das Bewusstsein wiedererlangt hatte.
    Er wollte offenbar, dass sie den ersten Schritt tat. Das spürte sie deutlich. Doch sie hatte ihm nichts zu sagen.
    »Entschuldigen Sie, dass ich so spät komme«, sagte er.
    »Dachte, Sie hätten heute ein Konzert.«
    »Schon vorbei.«
    »Früh«, bemerkte sie.
    »Diese Konzerte sind gewöhnlich um neun zu Ende. Das wollen die Promoter so.«
    »Woher wussten Sie, wo ich wohne?«
    Jimmy zuckte die Achseln. »Schätze, das habe ich immer gewusst.«
    »Was soll das heißen?«
    Er antwortete nicht, und sie drängte ihn nicht. Einige Sekunden lang herrschte absolute Stille.
    »Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll«, bemerkte Jimmy. Dann nach kurzer Pause fügte er hinzu: »Sie hinken immer noch.«
    »Schmeichelhafte Anmache«, sagte sie.
    Er versuchte ein Lächeln.
    »Ja, ich hinke.«
    »Vom …«
    »Ja.«
    »Tut mir Leid.«
    »Bin noch glimpflich davongekommen.«
    Ein Schatten huschte über sein Gesicht. Sein Kopf, den er endlich zu heben gewagt hatte, sackte erneut vornüber, als habe er seine Lektion gelernt.

    Jimmy hatte noch immer diese typischen ausgeprägten Wangenknochen. Die berühmten blonden Locken waren verschwunden. Ob durch genetische Disposition oder durch Schere und Haarschneider, konnte sie nicht sagen. Natürlich war er älter geworden. Er hatte seine Jugend bereits hinter sich. Und sie? Konnte man das auch von ihr behaupten?
    »Ich habe in jener Nacht alles verloren«, begann er. Dann hielt er inne und schüttelte den Kopf. »Nein, das stimmt so nicht. Ich will kein Mitleid.«
    Sie schwieg.
    »Erinnern Sie sich noch, dass ich Sie im Krankenhaus besucht habe?«
    Sie nickte.
    »Ich hatte jeden Zeitungsartikel gelesen. Jeden Illustriertenbericht. Ich hatte sämtliche Fernsehdokumentationen gesehen. Ich kenne die Geschichte jedes Jugendlichen, der in jener Nacht gestorben ist. Jede einzelne. Ich kenne ihre Gesichter. Wenn ich die Augen zumache, sehe ich sie noch immer vor mir.«
    »Jimmy?«
    Er sah wieder auf.
    »Sie sollten das nicht mir erzählen. Die Kids hatten Familien.«
    »Weiß ich.«
    »Ich kann Ihnen keine Absolution erteilen. Das steht mir nicht zu.«
    »Meinen Sie, ich sei deshalb hier?«
    Grace antwortete nicht.
    »Es ist nur …« Er schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung, warum ich hier bin. Ich habe Sie heute Abend gesehen. In der Kirche. Mir war klar, dass Sie mich erkannt haben.« Er neigte den Kopf zur Seite. »Wie haben Sie mich überhaupt gefunden?«
    »Habe ich gar nicht.«
    »War’s der Mann in Ihrer Begleitung?«

    »Carl Vespa.«
    »Gütiger Himmel.« Er schloss die Augen.

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