Kein böser Traum
Kino –, doch selbst wenn sie alle zu Hause waren, blieben sie meist in getrennten Zimmern. Charlaine versuchte die Zeit fürs Internet-Surfen zu begrenzen, doch das war unmöglich. In ihrer Jugend hatten Freundinnen und Freunde stundenlang telefoniert. Heutzutage chatteten sie im Internet.
Das war aus ihrer Familie geworden – vier voneinander getrennt existierende Persönlichkeiten, die jeder für sich im Dunkeln saßen und nur miteinander kommunizierten, wenn es sich nicht vermeiden ließ.
Sie sah, wie Licht in Sykes’ Garage aufflackerte. Durch das Fenster, das mit dem dünnen Spitzenvorhang, konnte Charlaine einen Schatten erkennen. Da war jemand. In der Garage. Warum? Es gab keinen Grund, weshalb sich der Polizist dort aufhalten sollte. Sie griff nach dem Telefonhörer und wählte den Polizeinotruf, während sie schon auf dem Weg zur Treppe war.
»Ich habe vor einer Weile angerufen«, eröffnete sie der Frau in der Telefonzentrale.
»Ja und?«
»Wegen eines Einbruchs im Nachbarhaus.«
»Ein Kollege ist bereits unterwegs.«
»Ja, das weiß ich. Ich habe den Streifenwagen in der Einfahrt gesehen.«
Stille. Sie kam sich wie eine Idiotin vor.
»Ich glaube, da ist was passiert.«
»Was haben Sie gesehen?«
»Ich glaube, er ist überfallen worden. Ihr Kollege. Bitte schicken Sie schnell Hilfe.«
Sie legte auf. Je länger sie sich in Erklärungen versuchte, desto dämlicher musste es sich anhören.
Das vertraute surrende Geräusch ertönte. Charlaine wusste, was es bedeutete. Es war Freddys elektrisches Garagentor. Der Mann hatte dem Polizisten etwas angetan. Und jetzt machte er sich aus dem Staub.
In diesem Moment beschloss Charlaine, etwas ausgesprochen Dummes zu tun.
Sie dachte an jene betörend schlanken Heldinnen, die mit dem vielen Stroh im Kopf, und fragte sich, ob je eine von ihnen, auch die dämlichste, je etwas so unterirdisch Dummes getan hatte. Sie bezweifelte es. Sie wusste, dass sie später, im Rückblick auf ihre Entscheidung – vorausgesetzt sie überlebte sie – lachen und vielleicht, nur vielleicht etwas mehr Achtung vor jenen Protagonistinnen haben würde, die nur mit Büstenhalter und Slip bekleidet in dunkle Häuser schlichen.
Tatsache war: Der asiatisch aussehende Mann war drauf und dran, die Flucht zu ergreifen. Er hatte Freddy verletzt. Er hatte einen Cop außer Gefecht gesetzt. Dessen war sie sicher. Bis die Polizei reagierte, war er über alle Berge. Sie würden ihn nicht finden. Es wäre zu spät.
Und wenn er entkam, was dann?
Er hatte sie gesehen. Das war ihr klar. Am Fenster. Vermutlich hatte er längst erraten, dass sie die Polizei gerufen hatte. Freddy
konnte tot sein. Der Polizist auch. Und wer war dann die einzige noch lebende Zeugin?
Charlaine.
Er würde wegen ihr zurückkommen. Soviel war sicher. Und selbst wenn er es nicht tat, selbst wenn er beschloss, sie in Ruhe zu lassen, dann würde sie bestenfalls permanent in Angst leben. Sie würde nachts nicht schlafen können. Am Tag würde sie unter den Passanten und Menschen in der Stadt nur sein Gesicht suchen. Vielleicht wollte er sich rächen. Vielleicht würde er sich an Mike oder den Kindern vergreifen …
Das durfte sie nicht zulassen. Sie musste ihn hier und jetzt aufhalten.
Wie?
Eine Flucht zu verhindern, war ja eine nette Idee, aber bleiben wir auf dem Teppich. Was konnte sie schon tun? Ein Gewehr besaßen sie nicht. Sie konnte nicht einfach rüberlaufen, ihn wie eine Raubkatze anspringen und ihm die Augen auskratzen. Nein, da musste sie sich schon was Schlaueres einfallen lassen.
Sie würde ihn verfolgen.
Oberflächlich betrachtet, musste das lächerlich erscheinen. Aber falls er entwischte, bedeutete das für sie ein Leben in Angst. Albträume, bis er gefasst war, wozu es möglicherweise nie kam. Charlaine hatte das Gesicht des Mannes gesehen. Sie hatte seine Augen gesehen. Damit konnte sie nicht leben.
Ihn zu verfolgen, ihn zu beschatten, wie das in den Fernsehfilmen hieß, war in Ordnung, wenn man die Alternativen bedachte. Sie wollte ihm mit ihrem Wagen folgen. Sie würde Abstand halten. Sie hatte ihr Handy. Also konnte sie der Polizei jederzeit sagen, wo er sich befand. Ihr Plan war es nicht, ihm lange zu folgen, nur so lange, bis die Polizei alles Weitere übernehmen konnte. Wenn sie jetzt nicht handelte, war der Asiate verschwunden, bevor die Polizei kam.
Es gab keine Alternative.
Je länger sie darüber nachdachte, desto weniger absurd kam es ihr vor. Sie hatte ein schnelles Auto.
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