Kein böser Traum
Allerdings wollte ich erst nicht mehr ins Rampenlicht. Jedenfalls bilde ich mir das ein. Madison ist schrecklich schüchtern. Ohne mich will sie nicht auf die Bühne. Irgendwann wird sie’s packen. Aber bis es so weit ist, dachte ich, sei das Schlagzeug eine gute Tarnung.«
Er zuckte die Schultern, versuchte ein Lächeln. Ein Hauch seiner alten, faszinierenden Ausstrahlung war noch ansatzweise zu spüren. »Schätze, das war ein Irrtum.«
Einen Moment sprach keiner ein Wort.
»Ich versteh’s immer noch nicht«, brach Grace das Schweigen.
Er sah sie an.
»Wie gesagt, es steht mir nicht zu, Ihnen Absolution zu erteilen. Aber Fakt ist doch, dass Sie damals an jenem Abend keinen Schuss abgegeben haben.«
Jimmy rührte sich nicht.
»Die The Who zum Beispiel. Bei ihrem Konzert in Cincinnati ist doch auch Panik ausgebrochen. Ohne größere Folgen. Und die Stones … als dieser Hell’s Angel bei einem ihrer Konzerte einen Jungen umgebracht hat … und die treten immer noch auf. Ich verstehe, dass eine Pause von ein bis zwei Jahren angebracht war, aber …«
Jimmy sah zur Seite. »Ich sollte jetzt gehen.«
Er stand auf.
»Wollen Sie wieder untertauchen?«, fragte sie.
Er zögerte. Dann griff er in die Tasche. Er zog eine Karte heraus und reichte sie ihr. Auf ihr stand eine Kombination aus 10 Zahlen. Das war alles. »Ich habe keine Adresse, kein Zuhause. Nur ein Handy.«
Er drehte sich um und ging zur Tür. Grace folgte ihm nicht. Unter normalen Umständen hätte sie ihn vielleicht bedrängt, aber letztendlich war sein Besuch nur ein bedeutungsloses Ereignis am Rande. Ihre Vergangenheit übte eine seltsame Faszination auf andere aus. Das war alles. Besonders jetzt.
»Passen Sie auf sich auf, Grace.«
»Sie auch, Jimmy.«
Sie blieb im Zimmer zurück, fühlte, wie sich Erschöpfung schwer auf ihren Schultern legte, und fragte sich, wo Jack wohl in diesem Moment sein mochte.
Es war tatsächlich Mike, der sich ans Steuer setzte. Der asiatisch aussehende Mann hatte fast eine Minute Vorsprung, doch das nützte ihm nichts in ihrem verwinkelten Wohnviertel mit seinen Sackgassen, einzeln stehenden Häusern und bewaldeten Grundstücken – diesem wunderbar unübersichtlichen Vorstadtbrei –, denn es gab nur eine richtige Zufahrt und nur eine Ausfahrt.
In diesem Viertel von Ho-Ho-Kus führen alle Straßen auf die Hollywood Avenue.
Charlaine klärte Mike in knappen Worten auf. Sie erzählte ihm das meiste – wie sie aus dem Fenster gesehen, den Mann entdeckt hatte und misstrauisch geworden war. Mike hörte zu, ohne sie zu unterbrechen. Ihre Geschichte hatte Schwachstellen groß wie Falltüren. Sie ließ zum Beispiel aus, weshalb sie aus dem Fenster gesehen hatte. Mike mussten die Lücken aufgefallen sein, doch er ließ sie vorerst unkommentiert.
Charlaine musterte prüfend sein Profil und fühlte sich erneut an ihre erste Begegnung erinnert. Sie war damals im ersten Semester an der Vanderbilt University gewesen. In Nashville gab es nicht weit vom Campus einen Park mit einer Nachbildung des Parthenon Tempels von Athen. Ursprünglich 1897 für die Ausstellung zur Hundertjahrfeier von Nashville erbaut, galt sie bald als die realistischste Kopie des berühmten Tempels auf der Akropolis.
Und genau dort hatte Charlaine, gerade achtzehn Jahre alt, an einem warmen Herbsttag gesessen, den Blick bewundernd auf das Gebäude gerichtet in dem Versuch, sich das Leben und Treiben im alten Athen vorzustellen, als eine Stimme gesagt hatte: »Haut nicht hin, oder?«
Sie drehte sich um. Mike hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben. Er sah wahnsinnig gut aus. »Wie bitte?«
Er kam einen Schritt näher, den Anflug eines Lächelns auf den Lippen, und strahlte ein Selbstbewusstsein aus, das sie sofort faszinierte. Mike machte eine Kopfbewegung in Richtung des riesigen Tempels. »Ist ein genaues Abbild, heißt es. Du schaust es
an und siehst, was sie gesehen haben, die großen Philosophen wie Plato und Sokrates. Aber Mann …«, er hielt inne und zuckte mit den Schultern. »Soll es das gewesen sein?«
Sie lächelte. Sie sah, wie seine Augen groß wurden und wusste, dass ihr Lächeln seine Wirkung nicht verfehlt hatte. »Es überlässt nichts der Phantasie«, sagte sie.
Mike neigte den Kopf leicht zur Seite. »Wie meinst du das?«
»Man sieht die Ruinen des echten Parthenon und versucht sich vorzustellen, wie es ausgesehen haben mag. Aber die Wirklichkeit, wie das da, kann niemals die eigene Phantasie
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