Kein böser Traum
meinem Partner Frederick Sykes.«
Jetzt wagte sich Wu den nächsten Schritt vorwärts.
»Verstehe«, sagte der Polizist. »Und Mr. Sykes ist …?«
»Oben. Im ersten Stock.«
»Ich möchte ihn gern sprechen.«
»Kein Problem. Kommen Sie rein.« Wu wandte dem Polizeibeamten den Rücken zu und rief ins Haus: »Freddy? Freddy, zieh dir was an. Die Polizei ist da.«
Wu musste sich nicht umdrehen. Er wusste, dass der Polizist hinter ihm herkam. Er war jetzt nur noch gut vier Meter von ihm entfernt. Wu trat ins Haus. Er hielt die Tür auf und schenkte dem Polizisten ein, wie er dachte, schwules Lächeln. Der Polizist – sein Namensschild lautete Richardson – kam zur Tür.
Als er nur noch einen Meter entfernt war, schnellte Wu nach vorn.
Officer Richardson hatte gezögert, vielleicht etwas geahnt, doch da war es schon zu spät gewesen. Der mitten in seine Eingeweide gezielte Schlag war ein Handkantenschlag. Richardson klappte zusammen wie ein Liegestuhl. Wu trat näher. Er wollte ihn bewegungsunfähig machen, nicht töten.
Der Oberkörper des Cops war vornübergefallen. Wu schlug ihm in die Kniekehlen. Richardson ging auf die Knie. Wu benutzte eine Druckpunkt-Technik. Er versenkte die Knöchel seines Zeigefingers in die Vertiefungen unterhalb der Ohrläppchen an einem Punkt zwischen Kieferknochen und dem Warzenfortsatz des Hinterhauptes, einem Bereich, den die Akupunktur als TW 17 kennt. Der korrekte Winkel des Griffs ist entscheidend. Übte man zu viel Druck aus, konnte man jemanden töten. Hier war Präzision gefragt.
Von Richardsons Augen war fast nur noch das Weiße zu sehen. Wu ließ los. Richardson sackte wie eine Marionette zu Boden, deren Schnüre man durchgeschnitten hatte.
Die Bewusst- und Bewegungslosigkeit würde nicht lange anhalten.
Wu nahm die Handschellen vom Gürtel des Mannes und fesselte ihn mit den Handgelenken an das Treppengeländer. Dann riss er ihm das Funkgerät von der Schulter.
Wu dachte an die Frau von nebenan. Sie war sicher wieder auf ihrem Beobachtungsposten.
Sie würde die Polizei bestimmt erneut anrufen. Er zögerte. Für sie blieb ihm keine Zeit. Sie würde ihn kommen sehen und sich sofort verbarrikadieren. Das kostete ihn zu viel Zeit. Seine größte Chance war der Überraschungseffekt. Er lief in die Garage zu Jack Lawsons Minivan. Ein Blick in den Laderaum genügte.
Jack Lawson war noch da.
Wu setzte sich hinters Steuer. Er hatte einen Plan.
Charlaine ahnte nichts Gutes, als sie den Polizisten aus dem Wagen steigen sah.
Zum einen war er allein. Sie hatte angenommen, dass sie zu zweit kommen würden – und wieder bewährte sich ihre Erfahrung als eifrige Fernsehzuschauerin. Umgehend wurde ihr klar, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Ihr Anruf hatte zu harmlos geklungen. Sie hätte die Sache dringlicher, bedrohlicher beschreiben müssen. Dann wären die Beamten gewarnt gewesen, wären vorsichtiger vorgegangen. Stattdessen war sie wie eine neugierige Nachbarin aufgetreten, eine verrückte Hausfrau, die nichts Besseres zu tun hatte, als bei jeder Kleinigkeit die Polizei aufzuscheuchen.
Auch die Körpersprache des Polizisten stimmte nicht. Er schlenderte beschwingt auf das Haus zu, locker und lässig, vollkommen arglos. Charlaine konnte von ihrem Standort aus nur die Einfahrt, nicht jedoch die Haustür sehen. Als der Polizist aus ihrem Blickfeld verschwand, sank ihr Mut.
Sie war kurz versucht, ihm eine Warnung zuzurufen. Das Problem waren – so idiotisch das auch klingen mochte – die neuen Fenster, die sie im vergangenen Jahr hatten einbauen lassen. Sie
wurden vertikal durch einen Handknauf geöffnet. Bis sie beide Schlösser geöffnet und den Knauf bedient hatte, war der Officer längst außer Sichtweite. Und was hätte sie ihm schon zurufen sollen? Welche Warnung? Was wusste sie denn schon?
Sie wartete.
Mike war zu Hause. Er saß unten im Arbeitszimmer und sah sich im Sportkanal ein Spiel der Yankees an. Es war der Abend der getrennten Freuden. Sie sahen schon lange nicht mehr gemeinsam fern. Die Art, wie er durch die Programme zappte, machte sie wahnsinnig. Außerdem hatten sie unterschiedliche Vorlieben. Aber irgendwie erschien ihr das nicht der wirkliche Grund zu sein. Sie war nicht wählerisch. Dennoch nahm Mike das Arbeitszimmer. Sie hatte das Schlafzimmer. Sie sahen allein und im Dunkeln fern. Auch hier wusste sie nicht so recht, wann es damit angefangen hatte. Die Kinder waren heute Abend nicht zu Hause – Mikes Bruder war mit ihnen im
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