Kein böser Traum
Franklin Boulevard an. Stammgeschäfte kannte sie nicht. Ihre Freundinnen hatten ausgesprochene Favoriten unter den Supermärkten und dachten nicht im Traum daran, bei der Konkurrenz fremdzugehen. Grace überließ die Auswahl dem Zufall. Denn Tropicana
Orangensaft blieb, wo immer man ihn auch kaufte, einfach nur Orangensaft der Marke Tropicana.
In diesem Fall lag King’s Supermarkt Starbuck’s schlicht am nächsten. Damit war ihr die Entscheidung abgenommen.
Sie griff sich einen Einkaufswagen und tat so, als sei sie einfach eine Durchschnittshausfrau an einem ganz normalen Wochentag. Dieser Zustand dauerte nicht lange. Plötzlich musste sie wieder an Scott Duncan und seine Schwester denken und daran, was das alles wohl zu bedeuten habe mochte.
Was, überlegte Grace, bedeutet das alles für mich von jetzt an? Zuallererst verwarf Grace die so genannte »Cora-Connection«. Sie existierte schlicht nicht. Duncan kannte Cora nicht. Er war von Berufs wegen misstrauisch. Grace wusste es besser. Cora war ein verrücktes Huhn, kein Zweifel. Aber das war gerade der Grund gewesen, weshalb sich Grace von Anfang an zu ihr hingezogen gefühlt hatte. Sie waren sich beim Schulkonzert begegnet, kurz nachdem die Lawsons in die Stadt gezogen waren. Während ihre Kinder die klassischen Lieder zum Schulanfang malträtiert hatten, hatten Grace und Cora in der Lobby ausharren müssen, da sie zu spät gekommen waren, um einen Sitzplatz zu ergattern. Cora hatte sich zu Grace herübergebeugt und geflüstert: »War leichter, beim Springsteen-Konzert in die erste Reihe zu kommen.« Grace hatte gelacht. Und so hatte ihre Freundschaft begonnen.
Aber Spaß beiseite und trotz aller Voreingenommenheit: Welches Motiv sollte Cora denn gehabt haben? Der beste Tipp war noch immer Josh mit dem Sauerkrautbart. Ganz logisch, dass er nervös war. Und er war grundsätzlich gegen jede Art von Autorität. Doch da musste noch mehr dahinter stecken, da war Grace sicher. Cora konnten sie vergessen. Sie sollten sich auf Josh konzentrieren. Dort lag irgendwo der Hund begraben.
Max hatte im Moment eine Vorliebe für Speck. Es gab einen neumodischen Fertigspeck, den er bei einem Freund gegessen hatte. Sie sollte ihn unbedingt auch kaufen. Grace überprüfte die
Inhaltsstoffe. Wie alle anderen Amerikaner bemühte sie sich gegenwärtig, die Kohlenhydratzufuhr zu reduzieren. Das Zeug hatte überhaupt keine Kohlenhydrate. Kein einziges kleines Kohlenhydrat war angegeben. Dafür genügte der Natriumgehalt, um einem größeren Teich Meerwasserqualität zu verleihen. Kohlenhydrate dagegen waren Fehlanzeige.
Sie vertiefte sich weiter in die Zutatenliste – ein interessantes Potpourri von Begriffen, die sie hätte im Lexikon nachschlagen müssen –, als sie das eindeutige Gefühl beschlich, beobachtet zu werden. Die Packung noch immer auf Augenhöhe, wandte sie langsam den Blick. Am Ende des Ganges, auf der Höhe des Kühlregals mit Salami und Lyoner Wurst, stand ein Mann und starrte sie unverhohlen an. Niemand sonst war im Regalgang zu sehen. Er war groß, vielleicht einen Meter achtzig. Er trug einen Zehntage-Bart, Bluejeans, ein kastanienbraunes T-Shirt und eine schwarze Bomberjacke aus glänzendem Material. Auf seiner Baseballkappe prangte das Nike-Emblem.
Grace war der Mann völlig unbekannt. Er starrte sie noch einen Moment weiter an, dann begann er zu sprechen. Seine Stimme war ein kaum vernehmbares Flüstern.
»Mrs. Lamb«, sagte er zu ihr. »Zimmer 17.«
Im ersten Moment begriff sie erst einmal gar nichts. Sie stand nur da, unfähig, sich zu bewegen. Nicht, dass sie ihn nicht gehört hatte – sie hatte jedes Wort verstanden –, aber diese Äußerung aus dem Mund eines Fremden entbehrte jedes logischen Zusammenhangs, jeder Bedeutung für ihre Person.
In den ersten beiden Sekunden jedenfalls. Dann überkam es sie mit der Wucht einer Flutwelle …
Mrs. Lamb. Zimmer 17 …
Mrs. Lamb war Emmas Lehrerin. Zimmer 17 war Emmas Klassenzimmer.
Der Mann war bereits im Gehen begriffen, eilte den Regalgang entlang.
»Warten Sie!«, rief Grace. »He, Sie da!«
Der Mann drehte sich an der Ecke um. Grace lief hinter ihm her, versuchte, ihre Schritte zu beschleunigen, doch ihr schlimmes Bein, das verdammte Bein, behinderte sie. Sie erreichte das Ende des Ganges an der Rückwand bei der Geflügeltheke. Sie sah nach rechts und links.
Keine Spur von dem Fremden.
Was jetzt?
Mrs. Lamb. Zimmer 17 …
Sie wandte sich nach rechts, kontrollierte jeden Regalgang
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