Kein Engel so rein
folge meinen Anhaltspunkten dorthin, wohin sie führen.«
Bosch bereute diesen Ausbruch von Frustration und Wut sofort. Billets gehörte sicher nicht zu denen, die nur darauf warteten, dass er sich selbst demontierte. Sie war hier nur die Botin. Gleichzeitig wurde ihm klar, dass seine Wut auch gegen ihn selbst gerichtet war, denn er wusste, dass Billets Recht hatte. Er hätte sich Surtain gegenüber anders verhalten sollen.
»Sie müssen entschuldigen«, sagte er in ruhigem, beherrschtem Ton. »Es ist einfach dieser Fall. Er hat so seine Haken und Ösen, verstehen Sie?«
»Ich glaube schon«, antwortete Billets genauso ruhig. »Weil wir gerade von Ihrem Fall reden, was tut sich da eigentlich genau? Diese ganze Geschichte mit Trent kam völlig unerwartet für mich. Ich dachte, Sie wollten mich auf dem Laufenden halten.«
»Das hat sich alles erst heute ergeben. Spätabends. Ich wollte Sie morgen früh über alles in Kenntnis setzen. Ich konnte ja nicht ahnen, dass mir Channel Four das abnehmen würde – und auf LeValley und Irving trifft das natürlich genauso zu.«
»Machen Sie sich um die vorerst keine Gedanken. Erzählen Sie mir von Trent.«
16
Es war schon lange nach Mitternacht, als Bosch in Venice eintraf. Die Parkplatzsuche in den Sträßchen entlang der Kanäle war aussichtslos. Nachdem er zehn Minuten lang herumgefahren war, parkte er auf dem Parkplatz neben der Bibliothek am Venice Boulevard und ging den ganzen Weg zurück.
Nicht alle Träumer, die es nach Los Angeles zog, kamen in die Stadt, um Filme zu machen. Venice war der hundert Jahre alte Traum eines Mannes namens Abbot Kinney. Als Hollywood und die Filmindustrie noch nicht einmal in den Kinderschuhen steckten, kam Kinney in das Sumpfland entlang des Pazifik. Er hatte eine Vision von einer Stadt, erbaut auf einem Netz aus Kanälen, mit Bogenbrücken und einem Zentrum im italienischen Stil. Es sollte ein Ort künstlerischer und kultureller Begegnung werden. Und er wollte es Venice of America nennen.
Aber wie im Fall der meisten Träumer, die nach Los Angeles kommen, wurde seine Vision nicht in ihrer Gesamtheit geschätzt und verwirklicht. Die meisten Finanziers und Investoren waren zynisch und steckten ihr Geld, statt ein zweites Venedig zu bauen, in weniger ehrgeizige Projekte. Venice of America erhielt den Spitznamen »Kinney’s Folly«.
Aber ein Jahrhundert später existierten noch viele der Kanäle und Bogenbrücken, die sich in ihrem Wasser spiegelten, während die Finanziers und Schwarzseher und ihre Projekte längst von der Zeit dahingerafft worden waren. Bosch gefiel die Vorstellung, dass Kinney’s Folly sie alle überdauert hatte.
Bosch war schon jahrelang nicht mehr bei den Kanälen gewesen, obwohl er hier nach seiner Rückkehr aus Vietnam kurze Zeit mit drei anderen Männern, die er aus dem Krieg kannte, in einem Bungalow gewohnt hatte. Seitdem waren viele der Bungalows abgerissen worden, um modernen zwei- und dreigeschossigen Wohnhäusern Platz zu machen, die eine Million Dollar und mehr kosteten.
Julia Brasher wohnte an der Kreuzung von Howland und Eastern Canal. Bosch rechnete damit, dass es einer dieser Neubauten wäre. Sie hatte es wahrscheinlich mit dem Geld gekauft oder sogar gebaut, das sie als Anwältin verdient hatte. Aber als er schließlich davor stand, merkte er, dass seine Vermutung falsch war. Sie wohnte in einem kleinen, mit weißen Schindeln verkleideten Bungalow mit einer Veranda, von der man auf die zwei sich kreuzenden Kanäle blickte.
Bosch sah hinter den Fenstern ihres Hauses Licht brennen. Es war spät, aber so spät auch wieder nicht. Wenn sie die Schicht von drei bis elf hatte, war ziemlich unwahrscheinlich, dass sie vor zwei ins Bett ging.
Er stieg auf die Veranda, zögerte aber, bevor er an die Tür klopfte. Bis sich vor einer Stunde die Zweifel bei ihm eingeschlichen hatten, hatte er, was Brasher und ihre knospende Beziehung anging, ein rundum gutes Gefühl gehabt. Er wusste, dass er jetzt vorsichtig sein musste. Möglicherweise war alles in bester Ordnung, und doch konnte er alles verderben, wenn er einen falschen Schritt machte.
Schließlich hob er den Arm und klopfte. Brasher kam sofort an die Tür.
»Ich hab mich schon gefragt, ob du irgendwann klopfst oder die ganze Nacht draußen stehen bleibst.«
»Du hast gewusst, dass ich vor der Tür stehe?«
»Die Veranda ist alt. Sie knarrt. Ich habe es gehört.«
»Na ja, plötzlich kamen mir Bedenken, es wäre vielleicht schon zu spät. Ich
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