Kein Engel so rein
angefasst.«
Bosch begann zu lesen. In seinen letzten Worten wies Trent entrüstet die Vorwürfe zurück, den Jungen auf dem Hügel ermordet zu haben, und machte seiner Wut darüber Luft, was ihm angetan worden war.
Jetzt werden es ALLE erfahren! Sie haben mein Leben zerstört, mich UMGEBRACHT. Das Blut klebt an Ihren Händen, nicht an meinen! Ich war’s nicht, nein, nein, NEIN! Ich habe nie jemandem was getan. Nie, nie, nie. Keiner Menschenseele. Ich liebe die Kinder. LIEBE!!!! Nein, es waren Sie, die mir das angetan haben. Sie. Aber ich bin derjenige, der nicht mehr mit dem Schmerz leben kann, den Sie mir so rücksichtslos zugefügt haben. Ich kann es nicht.
Es war immer wieder dasselbe und las sich eher so, als hätte jemand spontan eine Schmährede geschrieben, statt sich mit Papier und Stift hinzusetzen und seine Gedanken zu Papier zu bringen. Die Mitte der zweiten Seite nahm ein Kästchen ein, in dem unter der Überschrift »Die Verantwortlichen« mehrere Namen standen. Die Liste begann mit Judy Surtain und enthielt neben Bosch, Edgar und dem Moderator der Channel-4-Abendnachrichten auch drei Namen, die Bosch nichts sagten. Calvin Stumbo, Max Rebner und Alicia Felzer.
»Stumbo war der Polizist im ersten Fall und Rebner der Staatsanwalt«, sagte Edgar. »In den sechziger Jahren.«
Bosch nickte.
»Und Felzer?«
»Weiß ich nicht.«
Der Stift, mit dem der Abschiedsbrief offensichtlich geschrieben worden war, lag neben dem letzten Blatt auf dem Tisch. Bosch fasste ihn nicht an, weil er vorhatte, ihn nach Trents Fingerabdrücken untersuchen zu lassen.
Als Bosch weiterlas, fiel ihm auf, dass Trent jede Seite unten unterschrieben hatte. Am Ende der letzten Seite äußerte Trent eine eigenartige Bitte, die Bosch nicht auf Anhieb verstand.
Die Einzigen, die mir Leid tun, sind meine Kinder. Wer wird sich um meine Kinder kümmern? Sie brauchen Nahrung und Kleidung. Ich habe etwas Geld. Dieses Geld bekommen sie. Alles, was ich habe. Das ist mein letzter Wille und mein von mir unterzeichnetes Testament. Gebt das Geld den Kindern. Sorgt dafür, dass Morton ihnen das Geld zukommen lässt und mir nichts dafür berechnet. Tut es für die Kinder.
»Seine Kinder?«, sagte Bosch.
»Ja«, sagte Edgar. »Komisch.«
»Was machen Sie hier? Wo ist Nicholas?«
Sie blickten zum Durchgang vom Wohnzimmer zur Küche, wo ein kleiner Mann in Anzug und Krawatte stand. Bosch vermutete, dass er Anwalt war. Das musste Morton sein. Bosch stand auf.
»Er ist tot. Es sieht nach Selbstmord aus.«
»Wo ist er?«
»Im Bad, aber ich würde an Ihrer Stelle nicht –«
Morton war schon in Richtung Bad verschwunden. Bosch rief ihm nach: »Fassen Sie nichts an.«
Er nickte Edgar zu, er solle dem Anwalt sicherheitshalber folgen. Bosch setzte sich wieder und sah auf den Abschiedsbrief. Er fragte sich, wie lange Trent gebraucht hatte, um zu der Einsicht zu gelangen, sich umzubringen wäre sein einziger Ausweg, und dann diese drei Seiten zu schreiben. Es war der längste Abschiedsbrief, den er je gesehen hatte.
Morton kam, Edgar dicht hinter ihm, ins Wohnzimmer zurück. Sein Gesicht war aschfahl, sein Blick zu Boden gesenkt.
»Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollen hier bleiben«, sagte Bosch.
Der Anwalt hob den Kopf und sah Bosch an. Seine Augen füllten sich mit Wut, und das schien wieder etwas Farbe in sein Gesicht zu bringen.
»Sind Sie jetzt zufrieden? Sie haben sein Leben endgültig zerstört. Das ist, was dabei herauskommt, wenn man das Geheimnis eines Mannes den Geiern vorwirft, damit die es im Fernsehen verbreiten.«
Er deutete mit der Hand in Richtung Badezimmer.
»Mr. Morton, das entspricht zwar nicht den Tatsachen, aber auf den ersten Blick sieht es so aus, als wäre es so gewesen. Sie wären wahrscheinlich überrascht, wie sehr ich mit Ihnen übereinstimme.«
»Jetzt, wo er tot ist, haben Sie gut reden. Ist das ein Abschiedsbrief? Hat er einen Abschiedsbrief hinterlassen?«
Bosch stand auf und bot Morton seinen Platz auf der Couch an.
»Aber die Seiten bitte nicht anfassen.«
Morton nahm Platz, klappte eine Lesebrille auseinander und begann zu lesen.
Bosch ging zu Edgar und sagte leise: »Ich werde zum Telefonieren den Apparat in der Küche benutzen.«
Edgar nickte.
»Gib lieber schon mal der Pressestelle Bescheid. Die werden bestimmt begeistert sein.«
»Allerdings.«
Bosch nahm den Hörer des Wandapparats in der Küche ab und sah, dass er eine Wahlwiederholung hatte. Er drückte auf den Knopf und
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