Kein Engel so rein
zurück. Sie sind im Schrank in der Diele.«
»Sollen wir Ihnen helfen?«
»Nein, das schaffe ich schon allein.«
Sobald sie weg war, beugte sich Edgar zu Bosch hinüber und flüsterte: »Dieser Church-of-Nature-Tee schmeckt wie Pisse.«
Bosch zischte zurück: »Woher weißt du, wie Pisse schmeckt?«
Die Haut um Edgars Augen straffte sich vor Verlegenheit, als er merkte, wo er da reingetappt war. Bevor ihm eine Entgegnung einfiel, kam Sheila Delacroix mit einem alten Schuhkarton zurück. Sie stellte ihn auf den Couchtisch und nahm den Deckel ab. Der Karton war voll mit losen Fotos.
»Sie sind nicht geordnet. Aber er müsste auf vielen drauf sein.«
Bosch nickte Edgar zu, worauf dieser den ersten Packen Fotos aus dem Karton nahm.
»Erzählen Sie mir doch ein bisschen von Ihrem Bruder und wann er verschwunden ist, solange sich mein Partner die Fotos ansieht.«
Sheila Delacroix nickte und sammelte ihre Gedanken, bevor sie begann.
»Am vierten Mai neunzehnhundertachtzig. Er kam nicht von der Schule nach Hause. Das war’s. Das ist alles. Wir dachten, er wäre ausgerissen. Sie haben gesagt, Sie haben Kleider bei den Überresten gefunden. Also, mein Vater sah in seinen Schubladen nach und sagte, Arthur hätte ein paar Sachen mitgenommen. Deshalb dachten wir, er wäre ausgerissen.«
Bosch schrieb ein paar Dinge in das Notizbuch, das er aus seiner Jackentasche geholt hatte.
»Sie haben erwähnt, dass er sich ein paar Monate zuvor beim Skateboardfahren verletzt hat?«
Darüber dachte sie ziemlich lange nach.
»Das ist alles schon so lange her … ich weiß nur noch, dass er total auf dieses Board stand. Deshalb denke ich, dass er es wahrscheinlich mitgenommen hat. Aber mit Sicherheit weiß ich es nur bei den Kleidern. Mein Vater hat gemerkt, dass ein paar von seinen Sachen fehlten.«
»Haben Sie ihn vermisst gemeldet?«
»Ich war damals sechzehn, deshalb habe ich nichts unternommen. Aber mein Vater war bei der Polizei. Da bin ich ganz sicher.«
»Ich konnte nichts Schriftliches finden, dass Arthur vermisst gemeldet wurde. Sind Sie sicher, dass er ihn vermisst gemeldet hat?«
»Ich bin mit ihm zur Polizeistation gefahren.«
»War das die Wilshire Division?«
»Ich würde sagen, ja. Aber wirklich erinnern kann ich mich daran nicht mehr.«
»Wo ist Ihr Vater, Sheila? Lebt er noch?«
»Ja. Er wohnt im Valley. Aber es geht ihm nicht allzu gut.«
»Wo im Valley?«
»In Van Nuys. Im Manchester Trailer Park.«
Während Bosch diese Angaben notierte, herrschte Schweigen. Er kannte den Manchester Trailer Park von früheren Ermittlungen. Es war kein schöner Ort zum Leben.
»Er trinkt …«
Bosch sah sie an.
»Seit Arthur …«
Zum Zeichen, dass er verstand, nickte Bosch. Edgar beugte sich vor und reichte ihm ein Foto. Es war eine vergilbte 7x10-Vergrößerung. Darauf war ein kleiner Junge zu sehen, der mit ausge streckten Armen auf einem Skateboard fuhr. Aufgrund des Aufnahmewinkels war das Skateboard nur im Profil zu sehen. Bosch konnte nicht erkennen, ob ein Knochenmuster darauf war.
»Nicht viel drauf zu sehen«, sagte er und hielt Edgar das Foto wieder hin.
»Nein, was er anhat – das T-Shirt.«
Bosch sah wieder auf das Foto. Edgar hatte Recht. Der Junge auf dem Foto trug ein graues T-Shirt, auf dessen Brust SOLID SURF stand.
Bosch zeigte das Foto Sheila Delacroix.
»Das ist doch Ihr Bruder, oder?«
Sie beugte sich vor, um sich das Foto anzusehen.
»Ja, sicher.«
»Das T-Shirt, das er anhat – wissen Sie zufällig noch, ob das eins der Kleidungsstücke ist, die Ihr Vater nicht mehr finden konnte?«
Sheila Delacroix schüttelte den Kopf.
»Nein, das weiß ich nicht mehr. Das ist schon … ich kann mich nur erinnern, dass er dieses T-Shirt sehr mochte.«
Bosch nickte und gab Edgar das Foto zurück. Das war nicht die Art von hieb- und stichfester Bestätigung, die sie von Röntgenbildern und Knochenvergleichen erhielten, aber es war ein weiterer Schritt. Bosch gelangte immer mehr zu der Überzeugung, dass sie kurz davor standen, die Knochen zu identifizieren. Er beobachtete, wie Edgar das Foto auf einen dünnen Packen Aufnahmen legte, die er sich aus Sheila Delacroix’ Sammlung borgen wollte.
Bosch sah auf die Uhr und wandte sich dann Sheila Delacroix zu.
»Was ist mit Ihrer Mutter?«
Delacroix schüttelte sofort den Kopf.
»Sie war schon lange nicht mehr bei uns, als das alles passiert ist.«
»Sie meinen, sie ist gestorben?«
»Ich meine, sie ist einfach in den nächsten Bus gestiegen,
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