Kein Engel so rein
Station geschossen wurde, hielt es niemanden an seinem Platz. Das gehörte dazu, um den Glauben an die blaue Religion aufrechtzuerhalten. Wenn man selber derjenige war, der niedergeschossen wurde, wollte man auch, dass alle kamen. Deshalb verhielt man sich umgekehrt genauso.
Bosch brauchte eine Zigarette, er brauchte Zeit zum Nachdenken, und er brauchte ein paar Antworten. Ihm gingen alle möglichen Gedanken über Julia und ihren Zustand durch den Kopf. Aber er wusste, darauf hatte er keinerlei Einflussmöglichkeiten, und wenn er seine Gedanken in den Griff bekommen wollte, war es das Beste, sich auf etwas zu konzentrieren, worauf er noch Einfluss nehmen konnte.
Er wusste, ihm blieb wenig Zeit, bis das OIS-Team seine Fährte aufnehmen und ihn und Stokes holen kommen würde. Er griff nach dem Telefon und rief in der Zentrale an. Mankiewicz ging dran. Wahrscheinlich war er der letzte Cop in der Station.
»Was ist der neueste Stand?«, fragte Bosch. »Wie geht es ihr?«
»Keine Ahnung. Ich habe nur gehört, es sieht nicht gut aus. Wo sind Sie?«
»Im Bereitschaftsraum. Ich habe den Typen hier.«
»Harry, was soll der Quatsch? Der OIS hat sich eingeschaltet. Sie sollten am Tatort sein. Beide.«
»Sagen wir einfach, ich habe eine Zuspitzung der Situation befürchtet. Und geben Sie mir bitte sofort Bescheid, wenn Sie was von Julia hören, ja?«
»Geht in Ordnung.«
Bosch wollte gerade auflegen, als ihm noch etwas einfiel.
»Noch was, Mank. Edgewood hat den Verdächtigen zu vermöbeln versucht. Er lag zum fraglichen Zeitpunkt in Handschellen auf dem Boden. Wahrscheinlich hat er vier oder fünf Rippen gebrochen.«
Bosch wartete. Mankiewicz sagte nichts.
»Es bleibt Ihnen überlassen. Entweder ich erstatte ganz offiziell Meldung, oder Sie regeln das auf Ihre Art.«
»Ich kümmere mich drum.«
»Gut. Und nicht vergessen: Geben Sie mir sofort Bescheid, wenn Sie was Neues erfahren.«
Er legte auf und sah Edgar an, der zum Zeichen seines Einverständnisses mit der Art, wie Bosch die Sache mit Edgewood geregelt hatte, nickte.
»Was war jetzt eigentlich mit diesem Stokes?«, fragte Edgar. »Harry, was ist in dieser beschissenen Tiefgarage passiert?«
»Ich bin mir nicht sicher. Hör zu, ich gehe jetzt zu ihm rein und rede mit ihm über Arthur Delacroix – mal sehen, ob ich was aus ihm rauskriege, bevor das OIS-Team anrückt und ihn mitnimmt. Sieh zu, ob du sie ein bisschen aufhalten kannst, wenn sie herkommen.«
»Ja, und am Samstag schlage ich im Riviera Tiger Woods.«
»Ja, ich weiß.«
Bosch ging in den hinteren Flur und wollte gerade Zimmer 3 betreten, als er merkte, dass ihm Detective Bradley von der Dienstaufsicht sein Tonband nicht zurückgegeben hatte. Er wollte das Gespräch mit Stokes aufzeichnen. Er ging an der Tür von Zimmer 3 vorbei und betrat den angrenzenden Videoraum. Dort stellte er die Kamera und das Zusatzaufnahmegerät für Zimmer 3 an und ging dann in Zimmer 3.
Bosch setzte sich Stokes gegenüber. Aus den Augen des jüngeren Mannes schien alles Leben gewichen. Vor weniger als einer Stunde hatte er noch einen BMW eingewachst und sich ein paar Dollars verdient. Jetzt blühte ihm die Rückkehr ins Gefängnis – wenn er Glück hatte. Er wusste, Polizistenblut im Wasser lockte die blauen Haie an. Groß war die Zahl der Verdächtigen, die bei einem Fluchtversuch erschossen worden waren oder sich aus unerfindlichen Gründen in Räumen wie diesem erhängt hatten. Zumindest wurde es den Journalisten so erklärt.
»Tu dir selbst einen großen Gefallen«, sagte Bosch. »Beruhige dich um Himmels willen erst mal und mach keine Dummheiten. Mach mit diesen Leuten nichts, was dich das Leben kosten könnte. Hast du mich verstanden?«
Stokes nickte.
Bosch sah ein Päckchen Marlboros in der Brusttasche von Stokes’ Overall. Als er über den Tisch langte, zuckte Stokes zusammen.
»Bleib locker.«
Bosch griff nach dem Päckchen, nahm eine Zigarette heraus und zündete sie mit einem Streichholz aus einem unter die Zellophanhülle gesteckten Heftchen an. Er zog sich aus der Ecke des Zimmers einen kleinen Abfalleimer heran und warf das Streichholz hinein.
»Wenn ich dir was tun wollte, hätte ich das in der Tiefgarage getan. Danke für die Zigarette.«
Bosch sog den Rauch genüsslich ein. Es war mindestens zwei Monate her, dass er zum letzten Mal geraucht hatte.
»Kann ich auch eine haben?«, fragte Stokes.
»Nein, du hast keine verdient. Du hast einen Dreck verdient. Aber ich will dir ein Geschäft
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