Kein Engel so rein

Sakko aus und knüllte ihn zusammen.
    »Scheiße, Mann, das war ich nicht«, brüllte Stokes. »Ich hab keine Ahnung, was –«
    »Halt’s Maul! Halt bloß dein Maul!«
    Bosch schob Brasher sein Jackett unter den Kopf. Sie hatte vor Schmerzen die Zähne zusammengebissen und das Kinn nach oben gereckt. Ihre Lippen waren fast weiß.
    »Der Notarzt kommt gleich, Julia. Ich habe ihn schon gerufen, bevor das hier passiert ist. Ich muss Hellseher sein oder so was Ähnliches. Du musst durchhalten, Julia. Unbedingt.«
    Sie öffnete den Mund, aber es sah so aus, als strengte es sie fürchterlich an. Doch bevor sie etwas sagen konnte, begann Stokes mit vor Angst überschnappender Stimme erneut loszuschreien.
    »Das war ich nicht, Mann. Helfen Sie mir. Die bringen mich sonst um, Mann. Ich WAR’S nicht.«
    Bosch beugte sich über Stokes und legte sein ganzes Gewicht auf seinen Rücken. Dann bückte er sich und sagte mit lauter Stimme direkt in sein Ohr: »Halt endlich dein verdammtes Maul, sonst bringe ich dich selbst um!«
    Er wandte sich wieder Brasher zu. Ihre Augen waren noch offen. Über ihre Wangen strömten Tränen.
    »Julia, nur noch ein paar Minuten. Halt durch.«
    Er nahm die Waffe aus ihrer rechten Hand und legte sie, weit weg von Stokes, auf den Boden. Dann nahm er ihre Hand in seine Hände.
    »Was ist passiert? Was war los?«
    Wieder öffnete und schloss sie ihren Mund. Von der Rampe konnte Bosch das Geräusch rascher Schritte hören. Dann rief Edgar nach ihm.
    »Hier bin ich!«
    Wenige Augenblicke später waren Edgar und Edgewood bei ihm.
    »Julia!«, stieß Edgewood hervor. »Scheiße, nein!«
    Ohne auch nur einen Moment zu zögern, trat Edgewood vor und verpasste Stokes einen brutalen Tritt in die Rippen.
    »Du Scheißkerl!«
    Er holte aus, um noch einmal zuzutreten, doch Bosch brüllte: »Halt! Nein! Zurück!«
    Edgar packte Edgewood und zog ihn von Stokes zurück, der bei dem Tritt aufgeschrieen hatte wie ein verwundetes Tier und jetzt wimmerte und stöhnte vor Angst.
    »Bring Edgewood nach oben und schaff den Notarzt hier runter«, sagte Bosch zu Edgar. »Die Funkgeräte sind hier unten für’n Arsch.«
    Beide standen da wie versteinert.
    »Los! Schnell!«
    Wie auf ein Stichwort ertönte in der Ferne Sirenengeheul.
    »Wollt ihr ihr helfen? Dann holt sie hier runter!«
    Edgar zog Edgewood herum, und beide rannten die Rampe hinauf.
    Bosch wandte sich wieder Brasher zu. Ihr Gesicht hatte inzwischen die Farbe des Todes. Sie begann das Bewusstsein zu verlieren. Das verstand Bosch nicht. Es war nur eine Schulterwunde. Plötzlich kamen ihm Zweifel, ob er wirklich nur einen Schuss gehört hatte. Hatte der Nachhall des ersten Schusses vielleicht den Knall eines zweiten übertönt? Er untersuchte noch einmal ihren Körper, fand aber nichts. Aus Angst, noch mehr Schaden anzurichten, wollte er sie nicht umdrehen. Außerdem sickerte kein Blut unter ihr hervor.
    »Komm, Julia, halt durch. Du schaffst es. Hast du gehört? Der Notarzt ist gleich da. Du musst durchhalten.«
    Sie öffnete wieder den Mund, reckte das Kinn und begann zu sprechen.
    »Er … er griff … er wollte …«
    Sie biss die Zähne zusammen und rollte auf Boschs Jacke den Kopf hin und her. Sie setzte erneut an.
    »Es war nicht … ich bin nicht …«
    Bosch hielt sein Gesicht ganz dicht an ihres und flüsterte eindringlich: »Schscht, schscht. Nicht sprechen. Bleib nur am Leben. Konzentrier dich, Julia. Halt fest. Bleib am Leben. Bitte, bleib am Leben.«
    Er spürte, wie die Tiefgarage von Lärm und Erschütterungen erbebte. Im nächsten Moment prallten rote Lichter von den Wänden, und dann hielt ein Notarztwagen neben ihnen. Dahinter war ein Streifenwagen, und weitere Polizisten in Uniform sowie Eyman und Leiby kamen die Rampe heruntergerannt.
    »Lieber Gott, bitte«, wimmerte Stokes. »Lass nicht zu …«
    Der erste Rettungssanitäter erreichte sie, und das Erste, was er tat, war, Bosch die Hand auf die Schulter zu legen und ihn behutsam zurückzuschieben. Bosch ließ es mit sich geschehen, denn er merkte, jetzt wäre er nur noch im Weg. Als er sich von Brasher zu lösen begann, packte sie ihn plötzlich mit der rechten Hand am Unterarm und zog ihn wieder an sich. Ihre Stimme war inzwischen so dünn wie Papier.
    »Harry, lass sie nicht –«
    Der Rettungssanitäter stülpte eine Atemmaske über ihr Gesicht, und ihre Worte waren verloren.
    »Treten Sie bitte zurück, Officer«, sagte der Sanitäter bestimmt.
    Als Bosch auf allen Vieren von Brasher