Kein Entrinnen
spektakuläre.«
Er zeigte auf seine Handgelenke und seine Stirn. Dort lief ein markanter Streifen rund um den gesamten Schädel. Die Haut war gespannt und rissig. Eine lange Narbe.
»Was ist das?«, fragte Sheridan.
»Nun, es war mir noch nie vergönnt, eine Autopsie an einem zum Tode Verurteilten durchzuführen, aber ich denke, wenn ich jemanden untersuchen müsste, der auf dem elektrischen Stuhl saß, dann würde das dem hier ziemlich gleichen.«
Sheridan fuhr beinahe hoch. Er stellte sich den Eisenring und die Ringe an den Handgelenken vor, durch die der elektrische Strom floss.
»Ein elektrischer Stuhl?«
»Die Verbrennungen sind typisch, aber der Junge ist nicht daran gestorben. Der Saft war nicht ganz aufgedreht. Nein, er wurde gefoltert, das auf jeden Fall.«
Sheridan erbleichte.
»Was sind das bloß für Geschichten?«, knurrte er. »Weisen alle Körper solche Merkwürdigkeiten auf?«
»Nein, zum Glück nicht.«
»Wir ziehen augenblicklich einen Sektenselbstmord oder den assistierten Selbstmord einer Gruppe in Erwägung.«
»Wirklich? Die toxikologischen Untersuchungen sprechen allesamt für das Fehlen von Drogen, Alkohol oder anderen Substanzen, die die Sache hätten erleichtern können. Bis zum Beweis des Gegenteils waren diese Männer und Frauen im Augenblick ihres Todes bei klarem Verstand. Das ist ja eben das Schreckliche! Wir haben es bestimmt mit einem penibel organisierten, sauber durchgeführten, vielleicht fehlerlosen Massaker zu tun. Das kann in der Tat für eine gewisse Freiwilligkeit auf Seiten der Opfer sprechen. Schwierig, sich das Gegenteil vorzustellen. Man lässt sich nicht einfach eine Schusswaffe so genau auf die Brust setzen ohne eine gewisse … Überzeugung, nicht wahr?«
Doch Basile King hob einen Finger.
»Na ja, alle waren vielleicht nicht so entschlossen …«
Er führte Sheridan in einen dritten Saal. Dort betrachtete Sheridan den Leichnam eines blonden Mädchens, das noch immer sehr schön war. Kaum zwanzig Jahre alt. Vielleicht die Jüngste in der Gruppe. Als der Colonel eintrat, beendeten zwei Gerichtsmediziner gerade ihre Autopsie. Die Organe des Mädchens waren in kleine Plastiktüten verpackt worden, die ohne viel Federlesens ins Innere der klaffenden Bauchhöhle gestopft waren. Sie machten sich gerade daran, sie zuzunähen.
»Bei diesem Mädchen gibt es eine Anomalie hinsichtlich der Kugel«, sagte King.
»Keine.45 für sie?«
»Doch. Na ja, jetzt kann man es nicht mehr so gut erkennen.«
Er zeigte auf die gleiche Stelle des Rumpfes wie bei den anderen Leichen.
»Aber sehen Sie lieber selbst«, fuhr er fort.
Mit Hilfe eines seiner Assistenten ergriff er den Körper und drehte ihn auf die linke Seite.
Stu erkannte die Anzeichen einer zweiten Kugel mitten in den Rücken.
»Diese hier hat sie als Erstes bekommen«, erklärte King. »Die Kugel traf die Lunge. Tödlich. Die andere wurde nur der Form halber abgefeuert.«
»In den Rücken?«
Basile nickte zustimmend. Er legte den Körper wieder zurecht.
»Also«, sagte Sheridan, »die hier hätte versucht zu fliehen?«
»Das ist eine Hypothese. Aber interessant. Sie beruhigt mich ein wenig. Diese ganzen perfekten Exekutionen, die sich aufs Haar gleichen, machen mir allmählich wirklich Angst. Wie kann man so mit sich umspringen lassen, wo bleibt der Überlebenswille? Es sieht so aus, als hätte wenigstens ein junges Mädchen sich gegen das Gemetzel gewehrt.«
Das war ein wichtiger Punkt. Diese Erkenntnisse mussten an Gardner und Tajar weitergeleitet werden.
Eine wilde Geburt, eine Kugel in den Rücken, ein elektrischer Stuhl …
Der Arzt führte Sheridan in sein Büro.
»Jetzt müssen wir die Identifikationen durch das Justizministerium anhand der Proben abwarten«, schlussfolgerte er. »Ein paar Identifizierungen genügen uns, Sie werden sehen. Die Anzahl der Opfer ist eher ein Vorteil für uns. Es ist immer besser, zwei oder drei Tote am Hals zu haben als einen einzigen. Die Indizienkette wächst schneller. Man stellt Verbindungen zwischen den Toten her und die Wahrheit kommt ans Licht. Und erst mit mehr als zwanzig! Man braucht nur herauszufinden, wie sie zueinander stehen. Das ist ziemlich einfach. Alles wird sich aufklären.«
»Ja? Warten wir es ab …«
4
Als Frank Franklin morgens in Durrisdeer erwachte, erkannte er nichts wieder. Kein vertrauter Verkehrslärm, kein Hupen zur Unzeit, verschwunden der kurzatmige Schrei der Bremskompressoren der Busse, verstummt das Dröhnen der oberirdischen
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