Kein Entrinnen
einen Sinn ergab? Frank las auf den Buchumschlägen, dass der Mann seit nunmehr fünfzehn Jahren mühelos zwei Bücher pro Jahr verfasste, die von einer wachsenden Zahl verschiedener Verlage publiziert wurden. Was würde aber Colonel Sheridan daraus schließen? Dreißig Bluttaten? Frank wusste aus eigener Berufserfahrung, dass die Inspiration der Schriftsteller - jedenfalls die, die machtvoll genug war, um Anstoß zu einem Roman oder gar zu einem ganzen Werk zu geben - sich auch aus vielen anderen Quellen als dem von Sheridan anderntags erwähnten »Erlebten« speiste: ein Zeitungsartikel, das Geständnis eines engen Vertrauten, ein außergewöhnlicher Traum, die Idee für einen Titel oder den Namen einer Figur, der verblüffende Beruf eines im Fernsehen vorgestellten Unbekannten, das Thema einer im Zug mitgehörten Unterhaltung, manchmal sogar nur die schlichte Tatsache, dass man sich ans Schreiben machte, ohne zu wissen, wohin es führen mochte - das alles genügte, um die ganze Kriegsmaschinerie des Romanciers in Gang zu setzen. Es war nicht nötig, Gedärme zu untersuchen wie Michelangelo oder Weltreisen zu unternehmen wie Joseph Conrad.
Franklin leerte lustlos sein Bier.
»Das ist alles Quatsch!«
Er ging wieder in sein Schlafzimmer hinauf.
Die Einrichtung des Hauses war beinahe vollständig. Im Lauf der letzten zwei Monate hatte Franklin einige Antiquariate und Flohmärkte der Region besucht. Seine eigenen Vorlieben in Verbindung mit denen Marys hatten eine rustikalmoderne Mischung hervorgebracht, die mit Sicherheit nicht nach dem Geschmack des alten Mycroft Doyle gewesen wäre. An dem Abend, als sie sich zum ersten Mal unter diesem Dach liebten, bemerkte Mary allerdings, dass dieses Haus noch eine weitere Revolution erlebte, denn Doyle war ein Leben lang Junggeselle geblieben und die Wände seines Zimmers hatten mindestens seit der zweiten Amtszeit von Dwight Eisenhower keine weibliche Stimme mehr vernommen!
Im ersten Stock sah Franklin im blauen Lichtschein des verglasten Erkers seine Schreibmaschine, die wie ein Kultgegenstand auf dem Schreibtisch seines Arbeitszimmers stand. Mary hatte auch in diesem Punkt recht gehabt: Er hatte keine Zeile geschrieben, seitdem er in Durrisdeer eingezogen war.
Aber jetzt …?
Frank ging nicht ins Schlafzimmer. Er setzte sich an die Remington 3B, seinen antiken Sammlertraum. Das zerborstene Korbgeflecht hinterließ einen schmerzhaften Abdruck auf seinem nackten Hinterteil, doch er achtete nicht darauf.
Er schob ein weißes Blatt Papier in die Walze und überprüfte die Qualität seines Farbbands.
Soeben war ihm eine ausgezeichnete Idee gekommen.
3
Vier Tage später nutzte Franklin das Osterwochenende und einen Donnerstag und Freitag, an dem seine Studenten mit Prüfungen in ihren anderen Fächern beschäftigt waren, um nach New York zu fahren, seinen Verleger aufzusuchen und wieder einmal andere Luft zu schnuppern. Seit Wochen hatte er die Mauern von Durrisdeer nicht länger als für ein paar Stunden verlassen.
Er hatte Mary auf diese Reise »im Schlepptau« mitgenommen. Die Tochter des Dekans hatte ihre Abreise ihren Eltern gegenüber mit dem Argument gerechtfertigt, sie wolle versuchen, sich an einer Modeschule in Manhattan einzuschreiben. Noch wusste niemand über das heimliche Pärchen Bescheid. Es war ihr erstes gemeinsames Wochenende. Dass es geheim war, verleih dem Unterfangen eine besondere Würze.
Sie trafen sich am Bahnhof von Concord, um nach Boston zu fahren und von dort weiter nach New York.
Franklin kannte von New York nicht mehr als den Central Park, die zwei Mets und einige rein touristische Sightseeingklischees. Er hatte fast nie einen Fuß dorthin gesetzt. Seine Mutter verabscheute diese Insel auf Stelzen.
Mary jedoch kannte alles und, so schien es ihrem Freund, alle Welt. Auf diversen Touren lernte der junge Mann eine vollkommen neue Seite der Stadt kennen: verqualmte Bars im besten Bukowski-Stil oder auch à la Fitzgerald, die sich nicht an Rauchverbote hielten, mit abgewetztem Leder, lackiertem Holz und italienischen Glaslampen, und mit der besten Auswahl an Single-Malt-Whiskys im Angebot, die man in diesem Landesteil finden konnte. Daneben erlebte er Viertel, die verblüffend grün waren, Erstickungsanfälle in Jazzklubs, in denen auf zeitgenössischen Instrumenten swingender Bop for the People aus den 40er Jahren gespielt wurde, und sogar House -Clubs in Gesellschaft von Spinnern und Verrückten jener Modebranche, an der Marys Herz so
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