Kein Fall für Mr. Holmes
zog ich das Laken vorsichtig vom Oberkörper weg. Welch hübsches Ding sie doch war. Sogar nach dem Tod. Und so jung, nicht älter als zwanzig. Dem Leben entrissen worden zu sein, ohne es vorher wirklich erlebt zu haben, das war schon ein Verbrechen an sich.
Das Gesicht war nun alabasterweiß, wurde von dem tiefen Kastanienbraun ihrer Haare umrahmt und lag zu Füßen des Baumes gebettet auf Orange und Scharlachrot. Ich richtete ein Gebet an Gott mit dem Gedanken, wenn ein Leben nach dem Tod existiere, welch besseres Bild gäbe es dafür als die herbstlichen Blätter, die nun in ihren leuchtenden Farben auf wunderbare Weise noch lebendiger waren als in ihrem sommerlichen Grün.
Während ich das zum Schweigen gebrachte Gesicht eingehend betrachtete, drängte sich mir der Gedanke auf, daß dieses Mädchen mir irgendwie bekannt vorkam. Ich wischte die Vorstellung rasch beiseite. Unmöglich. Es gab sicherlich niemanden in ihrem Alter, der mir aus meinem kleinen Freundeskreis bekannt war. Was eigentlich sehr schade war, fand ich plötzlich. Dennoch, der Gedanke blieb hartnäckig wie ein Kind, das sich um Aufmerksamkeit bemühend am Ärmel festklammerte. Und dann geschah etwas sehr Außergewöhnliches. Für einen kurzen Moment schoß mir das Wort »Seemann« durch den Kopf. Seemann? Das ergab keinen Sinn. Ich schüttelte den Kopf, als wolle ich diese Störungen von der, wie ich hoffte, äußerst nüchternen und detaillierten Untersuchung fernhalten.
Wie der Lavafluß eines ausgebrochenen Vulkans war das Blut aus ihrem Hinterkopf geschossen und dann durch das nun verfilzte Haar gekrochen, bis es in geronnenen Bächen auf ihren Wangen und ihrem Hals endete. Meine Neugier wurde stärker als meine Abscheu, als ich bemerkte, daß das durchstochene linke Ohr bar jeglichen Schmuckes war. Ich drehte ihren Kopf zur Seite, schob das Haar zurück und entdeckte einen Ohrring in der Form eines Halbmondes im rechten Ohr. Ein Ohrring? Wenn der Mord hier draußen stattgefunden hatte, wie der Inspektor glaubte, mußte der in dem stattgefundenen Kampf verlorengegangene Ohrring in Reichweite liegen. Meine Hände tasteten den Boden und die Blätter ringsum sorgfältig ab. Wie ich vermutet hatte, gab es keine Spur des fehlenden Ohrrings.
Dieses Mädchen war nicht von hier. Auch keine Zigeunerin, wie der Colonel gemutmaßt hatte. Jedenfalls nicht, wenn man von ihrer Kleidung ausging, die ich unter dem halb geöffneten Mantel erkennen konnte. Nicht teuer, wohlgemerkt, aber modisch. Vielleicht aus London? Ach, wenn ich nur mehr Zeit gehabt hätte! Aber ein Husten des Inspektors, vermischt mit gelegentlichem Räuspern, zeigte mir, daß er ungeduldig wurde. Ich legte das Laken behutsam wieder über den freigelegten Teil ihres Körpers, und als ich mich erhob, bemerkte ich, daß von dem Absatz eines jeden ihrer Schuhe eine tiefe Spur durch den weichen, nassen Grund bis hin zu dem Pfad führte. Hatte nicht auch Thackeray das Offensichtliche bemerkt? Wenn ja, dann machte er diesbezüglich keine Andeutungen.
Ich kam zu dem Schluß, daß der Inspektor sich nicht mit irgendeinem Hinweis beschäftigen wollte, der seine bereits aufgestellte Theorie vielleicht umwerfen würde. Tadlock plus Mädchen plus Streit gleich Mord. Alles war in tadelloser Ordnung. Was mich betraf, so konnte ich mir allerdings nicht vorstellen, daß die Gleichung so leicht aufging. Die Scheuklappen-Mentalität eines Inspektors, ehemals Mitglied der Londoner Polizei, veranlaßte mich zu der Spekulation, ob sein Umzug von der Stadt aufs Land wirklich gänzlich auf seinem eigenen Willen beruht hatte.
»Wenn Sie dann fertig sind…«, sagte der Inspektor gelangweilt.
Ich nickte höflich.
Er wandte sich an McHeath. »Sie können dann den Leichnam auf den Karren legen, Constable. Hey du, Tadlock, hilf dem Officer mal.« An mich gerichtet sagte er: »Der Pfad führt Sie zurück, Mrs. Hudson. Es sei denn, natürlich, Sie wünschen, daß ich…«
»Danke, nein, Inspektor«, antwortete ich. »Ich finde ohne Schwierigkeiten zurück. Nochmals vielen Dank, daß Sie der Bitte einer alten Frau nachgekommen sind.«
»Bevor Sie sich verabschieden, Mrs. Hudson, eine Frage noch, wenn’s recht ist. Ich wäre daran interessiert, wie – Ihrer professionellen Meinung zufolge – Ihre Erkenntnisse hinsichtlich des Leichnams der Verstorbenen aussehen?«
Die Frage wurde mit einer allzu offensichtlichen Betonung des Wortes »professionell« gestellt.
Doch dieses Spiel konnten auch zwei spielen.
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