Kein Friede den Toten
auch egal«, sagte Olivia. »Dafür war es sowieso zu spät. Trotz unserer Angst mussten wir was tun. Also haben wir einen Plan entwickelt. Er war eigentlich ganz einfach. Zuerst haben wir Clydes Leiche in eine Decke gewickelt und im
Kofferraum verstaut. Dann haben wir den Pferch mit einem Vorhängeschloss verriegelt. Emma kannte eine Stelle, an der Clyde mindestens zwei Leichen entsorgt hatte, wie sie sagte. Draußen in der Wüste. Wir haben ihn im Niemandsland sehr flach begraben. Dann hat Emma im Club angerufen. Sie hat dafür gesorgt, dass alle Mädels länger arbeiten müssen, damit keine zu früh zum Pferch zurückkommt.«
»Wir sind zu ihr gefahren und haben geduscht. Als ich unter den warmen Wasserstrahl getreten bin, habe ich erwartet, dass es ein eigenartiges Gefühl wird, sich das Blut abzuwaschen. Wie in Macbeth .«
Ein mattes Lächeln fuhr ihr übers Gesicht.
»Aber das war nicht so?«, fragte Matt.
Olivia schüttelte bedächtig den Kopf. »Ich hatte gerade einen Menschen in der Wüste begraben. In der Nacht würden ihn die Schakale ausgraben und ihn auffressen. Und seine Knochen verschleppen. Das hatte Emma mir erzählt. Und es war mir vollkommen egal.«
Sie sah ihn an, als fordere sie ihn auf zu widersprechen.
»Und was habt ihr dann gemacht?«
»Kannst du dir das nicht denken?«
»Erzähl’s mir.«
»Ich … also, na ja, Candace Potter war ein Niemand. Es gab nicht mal jemanden, den man bei ihrem Ableben informieren konnte. Emma hat die Polizei angerufen. Sie war immerhin die Arbeitgeberin und fast schon so was wie ein Vormund. Sie hat gesagt, dass eins von den Mädchen ermordet worden ist. Dann ist die Polizei gekommen, und Emma hat ihnen Cassandras Leiche gezeigt. Der Ausweis steckte schon in ihrer Tasche. Emma hat die Leiche identifiziert und bestätigt, dass es sich um Candace ›Candi Cane‹ Potter handelt. Angehörige gab es nicht. Niemand hat das in Frage gestellt. Warum auch? Warum sollte jemand so was erfinden? Emma
und ich haben das Geld geteilt. Ich habe fünfzig Riesen bekommen. Kannst du dir das vorstellen? Die Mädchen im Club hatten sowieso alle falsche Papiere, es war also kein Problem, mir neue zu besorgen.«
»Und dann bist du einfach abgehauen?«
»Ja.«
»Was war mit Cassandra?«, fragte Matt.
»Was soll mit ihr gewesen sein?«
»Hat niemand nach ihr gefragt?«
»Bei uns sind Hunderte von Mädchen ein und aus gegangen. Emma hat allen erzählt, dass sie aufgehört hat – der Mord hätte ihr Angst eingejagt. Zwei andere Mädchen haben auch Angst gekriegt und sind abgehauen.«
Matt schüttelte den Kopf und versuchte, das zu begreifen. »Als ich dir zum ersten Mal begegnet bin, hast du dich Olivia Murray genannt.«
»Ja.«
»Du hast den Namen wieder angenommen.«
»Den hatte ich nur das eine Mal verwendet. An dem Abend mit dir. Hast die nie das Buch Die Zeitfalte gelesen?«
»Doch. In der fünften Klasse, glaube ich.«
»Als ich klein war, war das mein Lieblingsbuch. Die Heldin hieß Meg Murray. So bin ich auf den Nachnamen gekommen.«
»Und Olivia?«
Sie zuckte die Achseln. »Das klang einfach wie das Gegenteil von Candi.«
»Und was ist dann passiert?«
»Emma und ich haben einen Pakt geschlossen. Wir würden nie jemandem die Wahrheit erzählen – ganz egal, was passiert –, denn wenn eine von uns redete, konnte das den Tod der anderen bedeuten. Also haben wir uns das geschworen. Du musst verstehen, wie ernst mir dieses Versprechen war.«
Matt wusste nicht, was er dazu sagen sollte. »Und dann bist du nach Virginia gezogen?«
»Ja.«
»Wieso?«
»Weil Olivia Murray dort lebte. Es war weit weg von Las Vegas und Idaho. Ich habe mir eine Vergangenheit ausgedacht und Kurse an der University of Virginia besucht. Ich war natürlich nicht eingeschrieben, aber die Sicherheitsmaßnahmen waren damals noch nicht so streng. Ich habe mich einfach in Seminare gesetzt und in der Bibliothek und den Cafeterien herumgehangen. Ich habe Leute kennen gelernt. Sie haben mich für eine Studentin gehalten. Ein paar Jahre später habe ich so getan, als würde ich meinen Abschluss machen. Ich habe einen Job gekriegt. Ich habe nie zurückgeschaut oder über Candi nachgedacht. Candace Potter war tot.«
»Und dann bin ich dir über den Weg gelaufen?«
»Ja, so in der Art. Ich war doch ein verängstigtes Kind. Ich bin ausgerissen und habe versucht, mir ein Leben aufzubauen. Ein richtiges Leben. Und eigentlich wollte ich auch gar keinen Mann kennen lernen. Weißt du noch,
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