Kein ganzes Leben lang (German Edition)
Sie fühlte sich getrennt von ihrer Tochter. Die innige Beziehung des Stillens fehlte ihr. Sie griff nach dem Handy und rief Christianos Nummer auf. Sie zögerte. Wenn sie jetzt zurückruderte, war es nur eine Frage der Zeit, bis er sie wieder betrog. Dieses Mal hatte sie ihre Muttermilch verloren. Was würde das nächste Mal passieren? Sie musste das durchziehen, obwohl sie keine Ahnung hatte, was „das“ eigentlich genau bedeutete. Statt Christianos Nummer wählte sie Lucrezias. Sie nahm nach dem zweiten Klingeln ab.
„Willst du nicht auf ein Glas Wein vorbeikommen?“ Anna sehnte sich nach Gesellschaft.
„Eigentlich bin ich an den Schreibtisch gefesselt.“
„Uneigentlich?“ Hoffnung keimte in Anna auf.
„Habe ich Lust, mit meiner besten Freundin ein Glas Wein zu trinken.“
„Super! Wann kommst du?“, fragte Anna freudig. Der lange, einsame Abend nahm eine angenehme Wende.
„In einer halben Stunde bin ich bei dir. Hast du schon gegessen? Ich könnte unterwegs eine Pizza mitbringen.“
„Perfekt!“
Anna legte auf und ging in die Küche. Sie nahm eine Flasche Prosecco aus dem Kühlschrank. Als sie die Gläser aus der Anrichte nahm, fiel ihr Blick auf den Tomatenfleck an der Wand. Er prangte dort wie ein Mahnmal. Sie zuckte zusammen. Schnell wandte sie sich ab und öffnete die Flasche.
Lucrezia stellte einen Aktenordner in das Regal und fuhr ihren Computer herunter. Sie hatte das Bedürfnis, mit Anna zusammenzusitzen und vertraute Gespräche zu führen. Ohne anzuklopfen, öffnete Christiano mit einem Schwung ihre Tür.
„Wie weit bist du mit der Anmeldung? Das meiste dürften wir von alten Anmeldungen kopieren können.“
„Ich bin dran“, erwiderte Lucrezia kurz und nahm ihre Handtasche.
Christiano sah stirnrunzelnd auf die Uhr.
„Du gehst schon?“
„Ja, ich treffe mich mit Anna.“
„Wie bitte?“
„Du hast richtig gehört.“ Ein leichter Unmut machte sich in ihr breit.
„Findest du nicht, dass das unangemessen ist?“
„Weil sie deine Frau ist und wir ein Verhältnis haben?“, fragte Lucrezia provokativ.
„Weil wir morgen eine wichtige Besprechung haben und wir unter massivem Zeitdruck stehen werden, die Fusion anzumelden“, entgegnete Christiano scharf.
„An Anna denkst du wohl gar nicht“, konterte sie.
„Ach, und du denkst vielleicht ein bisschen zu viel an sie. Meinst du nicht, dass du die allerletzte Person auf der Erde bist, die sie als Freundin haben sollte?“
„Du hast gewusst, worauf du dich einlässt.“ Lucrezia ging an ihm vorbei und ließ ihn im Büro stehen.
„Lucrezia“, rief er ihr hinterher. „Ich untersage dir, zu ihr zu gehen.“
Sie drehte sich um. „Glaubst du ernsthaft, dass ich auf dich höre?“ Sie lachte ihn aus.
Er holte sie ein und fasste sie an den Schultern. Eine Kollegin kam vorbei und runzelte die Stirn. Christiano lockerte den Griff und grüßte sie.
Dann wandte er sich wieder Lucrezia zu und sagte mit gesenkter Stimme: „Ich will nicht, dass du weiter eine Freundschaft mit ihr unterhältst. Das ist nicht fair.“
„Ach, und ihr jetzt meine Freundschaft zu kündigen, wo sie mich am meisten braucht, das wäre fair?“, zischte sie zurück.
„Sie braucht eine richtige Freundin, nicht eine, die sie hintergeht.“
„Ich glaube nicht, dass du dich als Moralapostel aufspielen kannst.“ Sie funkelte ihn an.
Dann sagte sie laut: „Wie geht es übrigens deiner Hand?“ Sie lachte und ließ ihn stehen.
Als Lucrezia schon die Etagennummer drücken wollte, öffnete sich die Aufzugstür noch einmal, und eine elegante ältere Frau trat herein.
„Nehmen Sie mich mit?“ Die Frau sah sie neugierig an. Ein Schwall Chanel No. 5 nahm Lucrezia den Atem.
„Natürlich. Welche Etage?“
„Nummer fünf.“
„Wie ich.“ Lucrezia drückte auf die Fünf.
„Ach, besuchen Sie die Rumis?“
„Ja. Anna ist meine Freundin“, sagte Lucrezia zögernd. Sie mochte neugierige Leute nicht.
„Wie schön! Wie gerne hätte ich eine Freundin. Aber ich bin alleine. Wissen Sie“, sie beugte sich vertraulich vor, „ich habe nie geheiratet. Bis heute bedauere ich, keine Kinder zu haben. Schon oft habe ich Ihre Freundin gebeten, mir die Kleine zu bringen, aber sie vertraut mir wohl nicht.“ Sie sah Lucrezia abwartend an.
„Die Kleine ist sehr schüchtern“, erwiderte Lucrezia geistesgegenwärtig.
„Wissen Sie, Ihre Freundin scheint es momentan nicht leicht zu haben“, die Frau beugte sich vertrauensvoll vor. „Er ist wohl
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