Kein ganzes Leben lang (German Edition)
schlägt für dich. Gesagt hatte sie nur: „Wehe, du benutzt dann mein Gebiss.“ Sie hatten gelacht.
Anna unterdrückte eine Träne. Bitterkeit stieg in ihr auf. Sie würde sich nie mehr diese Fotos ansehen können und denken, was für ein glücklicher Augenblick. Einem plötzlichen Impuls folgend, stand sie auf und trat in den dunklen Flur. Unter den Flügeltüren, die am Ende des Ganges zum Wohnzimmer führten, flackerte ein Licht hindurch. Shaban sah fern. Sie sah kurz zu der Stelle, wo die Aktentasche gestanden hatte. Schnell ging sie daran vorbei und betrat das Kinderzimmer. Auf Zehenspitzen schlich sie an die Wiege. Das blaue Nachtlicht tauchte das Zimmer in ein magisches Licht. Sie schob den Schleier zur Seite. Laura schlief friedlich. Ihr Gesichtchen war entspannt. Das Mobile über dem Bett bewegte sich sanft, ein paar verlorene Töne erklangen. Anna lauschte Lauras regelmäßigem Atem.
„Engelchen, wo bist du da hineingeboren worden? Wir haben uns wirklich geliebt, als wir dich zeugten“, flüsterte Anna kaum hörbar.
Sanft berührte sie ihre Wange. Laura verzog ihren Mund zu einem Lächeln. Dann bewegte sie die Arme im Schlaf. Anna schob den Schleier zurück und schloss leise die Zimmertür.
„Noch einen Whisky, bitte.“ Christiano saß an der Hotelbar und vermisste den besten Freund, den er nicht hatte. Die E-Mail von Anna hatte er zähneknirschend gelesen. Er kannte die Bekannte von Anna nicht, aber es war ein hervorragender Kontakt, wie ihn nur wenige besaßen. Die Tipps der Beamtin waren hilfreich. Auch wenn es nicht viel an ihrem Vorgehen änderte, gab Annas Kontakt dem Mandanten Zuversicht. Und das zählte viel in einem Insolvenzfall. Er sah ein paarmal auf die Uhr und war versucht, Anna anzurufen.
Er schwenkte den tiefgoldenen Whisky hin und her. Wann war nur alles schiefgegangen? Als sie beschlossen hatten, nach Mailand zu ziehen, als er sich keine Zeit mehr für Anna nahm, als Anna schwanger wurde, als er Lucrezia küssen wollte oder als er sie geküsst hatte? Aber war ein Fehltritt wirklich so schlimm? Ein Fehltritt nicht, aber ein Verhältnis während der Schwangerschaft von Anna schon. Wenn ihn wenigstens Lauras Geburt wachgerüttelt hätte. Wer zog hier eigentlich die Fäden? Lucrezia, die ihn verführte, er, der Lucrezia nicht losließ? Oder war es Anna, die jetzt das Sagen hatte? Oder waren sie es alle? Sie glaubten schicksalsgeführt zu sein, doch in Wirklichkeit gaben sie nur ihren Schwächen nach.
Seine Gedanken drehten sich im Kreis. Der Whisky war ihm in den Kopf gestiegen. Er dachte an sein anonymes, leeres Hotelzimmer. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Er rief Annas Nummer auf. Sie saß jetzt bestimmt verzweifelt über einem leeren Word-Dokument. Wie sollte es auch anders sein? Auch wenn sie eine gute Anwältin gewesen war, konnte sie dies unmöglich nach zwei Jahren Pause schaffen. Plötzlich verspürte er den Wunsch, ihr zu helfen. Er lachte laut. Der Herr neben ihm sah ihn erstaunt an und wandte sich dann kopfschüttelnd ab. Es war das erste Mal, dass er freiwillig einem Anwalt der Gegenseite helfen wollte. Doch bevor die Verbindung hergestellt werden konnte, entschied er sich um. Er hatte sich heute schon eine Abfuhr eingeholt.
Mühsam erhob er sich von seinem Stuhl. Zu viel Whisky, dachte er. Erst einmal schlafen. Morgen war auch noch ein Tag.
Anna schaute entgeistert auf das fertige Memorandum, insgesamt drei knackige Seiten, die Executive Summary weniger als eine halbe Seite. Jeder Satz saß. Zuerst war es nur holprig vorwärtsgegangen. Sie war schon ein wenig eingerostet. Aber dann waren die Sätze aus der Feder geflossen. Sie hatte es dreimal überarbeitet. Es war jetzt einwandfrei. Sie lehnte sich im Stuhl zurück. Eine tiefe Zufriedenheit breitete sich in ihr aus und ein wenig Stolz. Sie trank einen Schluck Rotwein. Dann verfasste sie eine E-Mail an Paul, Christiano und Lucrezia. Sie las die E-Mail zweimal durch und überprüfte noch einmal das anliegende Memorandum. Als sie die Sendetaste drückte, war sie nervös. Sie schaute noch eine Weile auf die Nachricht, dass die E-Mail abgesendet worden war. Dann fuhr sie den Computer herunter. Sie trat in den dunklen Gang, passierte rasch die Stelle, wo die Aktentasche gestanden hatte, und ging ins Wohnzimmer.
Shaban war vor dem Fernseher eingeschlafen. Anna stellte den Fernseher aus, ein Großbildschirm, fast schon ein Kino. Es war Christianos Traum gewesen. Ihr bedeutete Fernsehen nicht viel,
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