Kein ganzes Leben lang (German Edition)
Vater sprach nicht mehr mit ihr. Und das war ihr lieber. Sie griff nach dem Telefon und wählte Annas Nummer.
Es dämmerte schon, als Anna an dem Hotel ankam. Der majestätische Altbau hob sich düster vom dunkelroten Abendhimmel ab. Trotz der Wärme fröstelte Anna. Lucrezia hatte sie überredet, mit ihr etwas trinken zu gehen. Laura hatte sie bei Shaban gelassen. Sie war sich bewusst, dass sie Shaban viel zumutete in letzter Zeit. Aber sie hatte keine Wahl. Sie brauchte diese egoistischen Augenblicke.
Sie durchquerte die Eingangshalle und betrat die Bar, die bekannt war für ihren Aperitif. Das mondäne Lokal war im Art-déco-Stil gehalten und versprühte den Charme der Zwanzigerjahre. Plüschige Couchecken boten Intimität. Die großen, halbrunden Fenster boten einen fantastischen Blick auf den Garten, der erleuchtet war. Es war schon recht voll. Die Männer waren im Anzug, die Frauen verführerisch chic. Anna setzte sich an die Bar und bestellte einen Champagner. Neben ihr stand ein junger Mann, der eine große blonde Frau beobachtete, die in einer der Sitzecken mit ihrer Freundin saß. Er nahm den Ehering vom Finger und ließ ihn in die Hosentasche gleiten. Dann stand er auf und ging mit drei Gläsern Champagner an den Tisch der Frauen. Ein älterer Herr betrat die Bar mit einer jungen, dunklen Schönheit, die ihn überragte. Zwei Männer in Designeranzügen gingen an ihr vorbei. „Wenn du mir mit dem Rossi-Deal hilfst, stell ich dir den Bürgermeister vor.“
Jeder war auf der Jagd nach etwas, lauerte in einer dunklen Ecke, bis der Moment gekommen war, zuzuschlagen. Sie betrachtete ihr Ebenbild im Spiegel. Ihr Elfengesicht war zu brav für diese dekadente Atmosphäre. Ihre weiße Bluse zu langweilig für die Sünden, die an einem solchen Ort verführen wollten.
„Liebes, ich hoffe, du hast nicht lange gewartet.“ Lucrezias Stimme ließ sie zusammenfahren. Ihre Schönheit nahm ihr für einen Moment den Atem. Ihre roten Lippen glänzten. Ihre großen dunklen Augen funkelten und ihr langes schwarzes Haar umschmeichelte ihr Gesicht. Sie trug ein schlichtes schwarzes Seidenkleid im Stil der Zwanzigerjahre. Sie verkörperte alles, was dieser Ort versprach.
„Keine Sorge. Ich bin gerade erst angekommen.“ Anna erhob sich.
„Lass dich umarmen.“ Bevor Anna sich versah, hatte Lucrezia sie in den Arm geschlossen. Für einen Augenblick atmete sie nur Jasmin und Honig.
Lucrezia hielt sie auf Armeslänge. Ihre Augen waren warm und herzlich.
„Du bist ja noch dünner geworden. Was ist aus meinem nordischen Engel geworden?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, machte sie dem Kellner ein Zeichen.
„Eine Flasche Champagner, bitte.“
Anna wollte protestieren.
„Keine Sorge, du trinkst ein Glas und ich den Rest.“ Sie zwinkerte ihr zu und ließ sich auf den Barhocker neben ihr gleiten.
„Dein Auftritt bei Bellezza war phänomenal“, erklärte Lucrezia unvermittelt.
Anna lächelte.
„Was hat Christiano gesagt?“
„Er war sauer, aber beeindruckt, insbesondere von deinem Memo.“
Anna ließ ihren Blick durch den Raum gleiten. Lucrezias Erscheinen war nicht unbemerkt geblieben.
„Das erste Mal seit ...“ Anna suchte nach Worten, fand sie nicht und sagte schließlich: „Da ist wieder Selbstbewusstsein, Selbstachtung. Es war die beste Entscheidung, Pauls Angebot anzunehmen.“
„Weiß Paul Bescheid?“
„Ich habe es ihm gesagt. Er war wütend. Aber er ist zufrieden mit meiner Arbeit. Wenn die Mandanten es nicht herausfinden, wird er sich damit abfinden.“
Lucrezia trank ihr Glas in wenigen Zügen aus.
„Willst du dich heute betrinken?“, fragte Anna skeptisch.
„Entspann dich.“ Lucrezia lachte.
„Ich wünschte, ich wäre mehr wie du.“
„Wie bitte?“ Lucrezia sah sie verwirrt an.
Anna trank einen Schluck Champagner.
„Ich habe immer meine Steuern bezahlt, mich nie betrunken, keinen One-Night-Stand gehabt.“
„Keinen One-Night-Stand? Nicht einen winzigen?“ Lucrezia sah sie ungläubig an.
Anna schüttelte lächelnd den Kopf. „Nicht einmal einen winzigen.“
„Du bist wirklich ein Engel“, stellte Lucrezia fest.
„Ein bisschen mehr Teufelchen, und Christiano wäre nicht fremdgegangen.“
„Falsch, ein bisschen mehr Teufelchen, und er hätte dich nicht geheiratet. Dazu ist er zu spießig.“ Lucrezia leerte auch das zweite Glas.
„Jedenfalls gehen mir meine Pastelltöne und hochgesteckten Haare auf den Geist.“
Lucrezia machte eine ausladende
Weitere Kostenlose Bücher