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Kein Job fuer schwache Nerven

Kein Job fuer schwache Nerven

Titel: Kein Job fuer schwache Nerven Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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vorschlägt.
    Das » Über-Ich« arbeitet nicht immer gleich, aber es arbeitet zuverlässig. Wenn man richtig Liebeskummer hat, so wie ich damals, dann fährt man schon mal zur U-Bahn-Station hin, man nähert sich vielleicht sogar den Gleisen, man schnuppert in die Nähe des Irrsinns, aber man macht’s dann doch nicht – weil das » Über-Ich« recht behält: Das mit dem Selbstmord klingt vielleicht ganz reizvoll, aber noch nie hat ein Anwender einen überzeugenden Erfahrungsbericht mit Fünf-Sterne-Empfehlung verfasst. Es gibt aber drei Fälle, in denen das Über-Ich versagt.
    Fall eins sind Kinder – denn das » Über-Ich« entwickelt man erst ab etwa sechs Jahren. Das ist auch der Grund, warum Kinder alles sofort haben müssen: Eis, Freibad, Weihnachtsgeschenke. Und das ist der Grund, warum sich Kinder höchstens versehentlich umbringen. Sterben ist etwas, was kein Kind dringend sofort haben muss.
    Fall zwei können Drogen sein, Alkohol zum Beispiel: Der schaltet das Über-Ich nicht komplett aus, aber er dimmt die mahnende Stimme weg, stellt sie ganz leise. Dann hat man zum Beispiel Sex, den man hinterher bereut. Oder kriegt mitten in der Diät einen Fressanfall und vernichtet drei Tüten Kartoffelchips.
    Ein Spezialfall hingegen ist Fall drei, das sind die Selbstmordkandidaten: Da fällt das Über-Ich aus irgendwelchen Gründen komplett aus. Es stimmt den Selbstmordvorschlägen nicht zu, so weit geht es nicht, aber es bleibt einfach stumm. Und zwar nicht nur einen entscheidenden Moment lang, wie, sagen wir, in dem entscheidenden Augenblick, in dem der Kandidat an den U-Bahn-Gleisen steht, das kann sich auch über einen viel längeren Zeitabschnitt hinziehen, sogar so lange, dass man es einfach nicht fassen kann, wie bei dem Fall in Grünwald.
    Wir bekamen den Anruf um die Mittagszeit, auf dem Rückweg von einem Leichenfundort. Eine Geruchsnachbehandlung. Ein Mann war am Apparat, hörbar geschockt, aber zugleich gefasst. Das gibt es öfter, da hat man den Eindruck, dass sich Leute aus dem Schock in eine besondere Sachlichkeit retten, man könnte beinahe denken, die wären total gefühllos – dabei stimmt’s natürlich genau anders herum. Er hatte unsere Nummer vom KIT München, er teilte uns mit, dass sich sein Bruder umgebracht habe, und fragte, ob wir kommen könnten. Ich sagte ihm zu, versprach, mir noch am selben Abend den Tatort anzusehen – reinigen würden wir freilich erst können, nachdem die Polizei ihre Routineermittlungen eingestellt haben würde.
    Ich fuhr nach Grünwald, das ist, wie auch Bogenhausen, der Ort der Erfolgreichen in und um München, oder jedenfalls der Ort, in dem sich die Erfolgreichen gerne niederlassen – die Grünwalder selbst sind weder reicher noch berühmter als andere Leute. Die Adresse führte mich zu einem ehemaligen Bauernhof, dessen Wirtschaftsgebäude rechtwinklig um einen Hof angeordnet waren. Und in dem Hof, der ja in der Form nicht mehr benötigt wurde, war inzwischen ein kleineres Gebäude errichtet worden, eine Art Garage mit Büro drüber.
    Der Mann, der angerufen hatte, hatte dort sein Büro, zusammen mit seinem Bruder. Er konnte es noch immer nicht fassen, dass sich sein Bruder umgebracht hatte. » Der war doch ein Perfektionist«, sagte er kopfschüttelnd, » der war immer so ordentlich.«
    Der Bruder war Manager gewesen, in einer Firma, die Seminare anbot. Er war verheiratet, er hatte drei Kinder. Er hatte ein strahlendes, breites Lächeln, er wirkte auf den Fotos selbstbewusst, überzeugend, wie jemand, bei dem nichts schiefgehen konnte. Dann hatte er sich von der Firma getrennt oder die Firma sich von ihm. Er hatte sich als Unternehmensberater selbstständig gemacht, und er war zu seinem Bruder ins Büro gezogen. Ich sah mir noch einmal das Gesicht des Mannes auf dem Foto an. Dann schaute ich mich um: Ich konnte mir nicht vorstellen, dass für ihn eine Bürohälfte über einer Garage im Hinterhof der Inbegriff des Erfolgs war. Und wenn man sich den Ort seines Todes ansah, dann lag der Schluss nahe, dass er sich die Schuld daran gab. Dass er sich regelrecht gehasst hatte. Er hatte sich in diesem Büro umgebracht, genauer: in der kleinen, schmalen Toilette.
    Er hatte seinen Bruder am Vorabend angerufen und ihm gesagt, sie müssten sich sehen, morgens um acht Uhr, um irgendetwas zu bereden. Dann war er zwei Stunden vorher ins Büro gefahren und hatte sich die Halsschlagadern geöffnet. Möglicherweise mit viel Glück, aber so, wie ihn sein Bruder beschrieb,

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