Kein Job fuer schwache Nerven
Faszinationsfaktor: Der Fall ist in den Medien.
Das ist kein schöner Zug des Menschen, aber ich fürchte, er ist normal. Das ist, wie wenn man Augenarzt ist, und zur Tür kommt nicht Herr Huber herein, sondern Harald Schmidt. Oder George Clooney. Die Augen sind dieselben, man verschreibt Barack Obama eine Brille wie anderen Leuten auch, aber trotzdem denkt man, man hätte gerade was Besonderes gemacht. So ist das bei mir auch. Es ist für mich was Besonderes, wenn ich einen Fall bekomme, über den ich schon vorher was in der Zeitung gelesen habe. Es wäre wahrscheinlich etwas noch Besondereres, wenn es ein berühmtes Bauwerk wäre, wenn ich den Kölner Dom reinigen sollte. Und das Allerbesonderste, wenn das Opfer oder der Täter auch noch berühmt wären, sagen wir, Kardinal Meissner richtet ein Blutbad im Kölner Dom an, und ich sollte alles wieder reinigen.
Der zweite Faszinationsfaktor ist aber wahrscheinlich für den Normalbürger schon nicht mehr so ganz leicht nachzuvollziehen: Am Einsatzort ist eine Straftat verübt worden. Der Einsatzort ist tatsächlich mal ein richtiger Tat-Ort, das kommt nicht so oft vor.
Ich kann nicht für alle Leichenfundortreiniger sprechen, aber ich stelle fest: Bei mir gibt es eine Art » Aufregungsskala « . Ein Leichenfundort ist aufregender als ein Wespennest. Eine gerade erst gefundene Leiche ist aufregender als eine Wohnung, die schon seit vier Wochen leer steht. Ein frischer Selbstmord ist aufregender als ein länger zurückliegender, aber jetzt erst entdeckter Selbstmord. Eine blutige Einsatzstelle ist spannender als eine stinkende Einsatzstelle. Eine Straftat schlägt alles.
Ist man krank, wenn man so denkt?
Nein, aber man ist süchtig.
Diese Sucht ist schwer zu erklären. In meinem ersten Buch habe ich es noch als eine Art Neugier, eine Art Sensationsgier bezeichnet, aber ich denke inzwischen fast, das greift zu kurz. Es ist eine Sucht, und zwar die Sucht nach einer besonderen Art Erlebnis. Man kann sich das wie bei einem Hochseilartisten vorstellen: Er spannt ein Seil zwischen zwei Hochhäusern, er sucht immer größere Höhen, immer ungewöhnlichere Orte, zwischen denen er sein Seil spannen kann. Er könnte genauso auf einem Seil in zehn Zentimetern Höhe balancieren, aber es ist die Tiefe, die ihn reizt. Bei uns ist es nicht die Tiefe, bei uns ist es die Emotion.
Die Beschäftigung mit dem Tod ist in vielerlei Hinsicht einzigartig. Ein Todesfall verändert einen Raum: Was jahrelang ein unordentliches Zimmer war oder ein penibel aufgeräumter Schreibtisch, ist plötzlich das Testament eines Lebens. Ein Todesfall verändert die Überlebenden: Diese Menschen sind schockiert, sie sind fassungslos, sie sind abgestoßen, aber sie sind immer ehrlich. Sie haben die Kraft nicht mehr, sich zu verstellen oder sich zusammenzureißen oder das darzustellen, was sie immer darstellen wollen oder sollen, sie erinnern sich vor mir, sie weinen vor mir, sie suchen Hilfe. Kaum jemals kommt man wildfremden Menschen so nahe wie in diesem Moment. Und all diese Gefühle sind so intensiv, dass jeder Beinbruch, jedes Wespennest, jeder Unfall daneben verblasst. Sicher, das sind auch ganz spannende Geschichten, sie waren früher, als sie neu und ungewohnt waren, auch richtig aufregend, aber sie vermitteln heute nicht mehr dieses unglaublich direkte Gefühl.
Es ist wie bei Drogensüchtigen: Der Körper, der Kopf möchte den Kick. Nicht den Wespenkick. Nicht den Beinbruchkick. Er will den Kick des Todes.
Der tröstliche Unterschied ist, dass in diesem Fall der Süchtige nicht benommen ist, nicht benebelt, er ist hellwach, er ist noch wacher als sonst, ohne jede Pille oder sonst was, er ist hundertprozentig einsatzbereit, vielleicht sogar 120-prozentig, wenn das überhaupt geht. Aber ich gebe gerne zu, dass es trotzdem sympathischere Züge an Menschen gibt, als dass einer angesichts eines Doppelmords an zwei kleinen Mädchen denkt: Den Fall hätte ich gerne. Und der dann auch noch enttäuscht ist, wenn acht Wochen später das Telefon klingelt, sich tatsächlich die Gemeinde Krailling meldet – und es stellt sich heraus: Es geht nur um Wühlmäuse auf dem Gemeindefriedhof.
Wir haben den Fall aber doch noch bekommen. Und damals ist mir zum ersten Mal so richtig klargeworden, dass jede Sucht ihren Preis hat. Man bezahlt immer. Aber wenn Feuerwehrler unter sich sind, wenn nur die Süchtigen unterwegs sind, fällt das nicht auf. Man merkt es immer nur dann, wenn normale Menschen dabei sind. Und
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