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Kein Kind ist auch (k)eine Lösung

Kein Kind ist auch (k)eine Lösung

Titel: Kein Kind ist auch (k)eine Lösung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T Wolf
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Kasten! Ich wägte ab zwischen der Anstrengung, runter- und wieder raufzugehen, und meiner Neugierde.
    Ich zog Michas Badelatschen an und schlurfte runter, in der Hoffnung, dass mich keiner sah. Das Ganze war anstrengender, als ich dachte – mit Gummilatschen, die sechs Nummern zu groß waren.
    Immerhin war der Weg nicht umsonst gewesen. Ich schnappte mir den Haufen Papier und machte mich auf den Rückweg. Werbung, Werbung, die Telefonrechnung, ein Brief. Ich drehte ihn, um den Absender zu sehen. Meine Mutter.
    Es war eine Einladung zu ihrem 60. Geburtstag, wie ich feststellen durfte, als ich wieder in der Wohnung war. Zu meinem Entsetzen wollte sie nun plötzlich doch richtig groß feiern. Wäre es der 59. gewesen, hätte ich eine Migräne als Grund vorschieben können, nicht zu erscheinen, oder für den Fall, dass es sich um einen Wochentag gehandelt hätte, auch noch meine Sendung. Doch es war nicht der 59.
    »Sie ist schon 60?«, fragte Micha abends.
    »Sie wird 60.«
    »Wow, das hätte ich nicht gedacht. Da hat sie sich aber gut gehalten. Das macht mir ja Hoffnung, wo du ihr doch sonst auch so ähnlich bist.« Er strich mit seiner Hand über meine Wange.
    » Ich, ihr ähnlich?«
    »Okay, du bist ihr überhaupt nicht ähnlich. Hast nicht dieses gewinnende Lächeln von ihr, diese schönen Haare, diese Sommersprossen …«
    »Schon gut.«
    Meine Güte. Dabei hatte er sie damals auf dem Bahnhof doch nur flüchtig gesehen. Eigentlich hatte ich gedacht, er hätte nur Augen für mich gehabt …
    Ich sah auf die Karte mit der goldenen sechzig und drehte sie, bis es eine 09 war. Ich stellte mir die Kuchenberge vor, auf die sich alle stürzen würden, als hätte es seit Jahren keinen Kuchen mehr gegeben. Ich hörte die schrillen Stimmen von Tante Emmi und Ilse, sah die unzähligen Freundinnen meiner Mutter, ahnte ihre indiskreten Fragen, spürte ihre musternden Blicke, roch das schwere Parfüm, das einem das Atmen erschwerte. Mir wurde schon bei dem Gedanken an all das schlecht. Es nützte nichts.
    »Ich glaube, wir müssen da hin.«
    *
    Drei Wochen später war es so weit.
    Die Sonne schien an diesem eigentlich ganz schönen 17. September, an dem wir nicht vorbeigekommen waren, und das war mein einziger Trost zwischen all den Torten, Tiramisu-Schälchen und Tanten, die mich ansahen, als sei ich die auferstandene Prinzessin Diana höchstpersönlich. Und dann diese Menge an Düften, eine Mischung aus den schlimmsten Gerüchen, die die Welt jenseits der 60 kannte! Dagegen war 4711 eine Wohltat! Was hätte ich darum gegeben die Luft anhalten zu können wie ein Nilpferd oder ein Pottwal.
    »Ach, Charly! Wie reizend«, flötete Ursel, die beste Freundin meiner Mutter, und streichelte meine Wange, ohne dass ich darum gebeten hatte.
    Hallo? Ich werde in drei Jahren vierzig! Nicht vier!
    »Wie du dich verändert hast. Und auch wenn du es nicht hören willst: Du siehst ihr so was von ähnlich. Mit jedem Jahr mehr, also zum Verwechseln ähnlich. Und das ist dein neuer Freund? Ja, wir haben schon gehört. Das ist ja schön, dass das auch noch geklappt hat. War ja nicht immer leicht, gell? Na, dann toi, toi, toi, dass es mit den Kindern auch noch klappt.«
    Ich hatte mir Kopfschmerzen gewünscht, als letzte Möglichkeit, noch absagen zu können – was man niemals tun sollte, denn nun hatte ich tatsächlich welche.
    Ich schlich mich aus dem überfüllten Wohnzimmer. Im Flur auf der Anrichte standen lila Blumensträuße, die irgendjemand mit silbernem Glanzspray übersprüht hatte – vermutlich von der gleichen Tankstelle, wie die, die wir gerade erst für meine Schwiegermutter gekauft hatten –, neben orangeroten Rosen, von denen ich gar nicht wusste, dass es eine solche Züchtung gab. Das Sofa im G ästezimmer war besetzt von beigen Strickjacken mit gol denen Knöpfen und getigerten Blusen.
    Ich schlich zurück in den Flur, wo ich sofort einen Schritt zur Seite machen musste, denn es näherte sich im Eiltempo ein Käsekuchen auf zwei Beinen. Ich wollte hier weg.
    Wo war eigentlich Micha? Und Waltraud? Ich stellte mir vor, wie die Arme mit Keksen aus großen blauen Blechdosen gefüttert wurde und ich sie am nächsten Tag zum Tiernotarzt bringen durfte.
    Es war inzwischen voller als auf einem türkischen Basar. Ich kam mir vor, als wäre ich mit einer Zeitmaschine dreißig Jahre zurückgereist. Davon abgesehen, dass ich keinen bunten, geringelten Nicki trug und die meisten Freundinnen meiner Mutter damals keine grauen Haare mit lila

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