Kein Kind ist auch (k)eine Lösung
Tönung hatten, war alles wie immer: Laut lachende Weiber aßen Torten, tranken Cognac und knutschten mich ab und betätschelten mich, als wäre ich ihr Schoßhund.
Am schlimmsten war es damals nach dem Unfall meines Vaters gewesen. Da saßen sie wochenlang in unserem Wohnzimmer. Die eine Hälfte tätschelte meine Mutter, die andere mich. Irgendwann hatte ich sie so weit, dass sie freiwillig gingen. Ich hatte einfach behauptet, mir in der Schule auf der Toilette eine ansteckende Krankheit geholt zu haben.
Mein Kopf drohte zu platzen. Warum hatte ich den Vorrat an Aspirin in meiner Handtasche nicht wieder aufgefüllt? Verdammt. Ich kämpfte mich bis zum Badezimmer durch. Besetzt. Es gab nur noch eine Chance. Das Schlafzimmer. Da lag doch seit Jahrzehnten diese kleine Pillendose auf dem Nachttisch.
Einen Moment zögerte ich, dann öffnete ich die Tür. Es war dunkel. Die schweren Vorhänge waren zugezogen, vermutlich damit sich der Raum nicht so stark erwärmte. Ich machte Licht. Links stand das große weiße Doppelbett, daneben der kleine Nachttisch mit dem Pillendöschen. Leer. Mist.
Ich sah mich im Raum um. Hinter dem Bett an der Wand stand der zum Rest passende weiß lackierte Schra nk. Seit ich denken konnte, hatte sich an diesem Anblick nichts geändert. Die Einrichtung war mindestens vierzig Jahre alt.
Ich hatte nie verstanden, warum meine Mutter sich nach Vaters Tod nicht ein neues Bett, ein Einzelbett, gekauft hatte. Stattdessen lag sie jede Nacht neben seiner leeren Matratze.
Ich setzte mich auf seine Hälfte.
Auf dem Regal neben dem Fenster standen alte Bilderrahmen mit noch älteren Fotos. Meine Mutter in einer gepunkteten Bluse mit spitzem, langem Kragen, Schlaghose und Hornbrille, am Arm meines Vaters, der eine Pfeife im Mund hatte. Daneben ein Foto meiner Oma, mit geblümter Schürze, vor ihrem Gartenhäuschen sitzend. Glücklich. Dann ich. Bei meiner Einschulung. Unglücklich. Der Ranzen hinter mir hing schief nach links auf meinem Rücken, die Schultüte schief nach rechts. Als hätten sie sich abgesprochen. Vielleicht sollte ich meiner Mutter einfach mal ein aktuelles Foto von mir schenken.
In der Kommode unter dem Regal befand sich früher in der obersten Schublade eine kleine Porzellanschüssel mit süßen Sachen. Lakritze, Lollis, Gummibärchen. Wenn ich die Hausaufgaben gemacht oder eine besonders gute Note nach Hause gebracht hatte, durfte ich an die Schublade gehen und mir etwas daraus nehmen.
Ich stand auf, ging zwei Schritte auf die Kommode zu und kniete mich vor sie hin. Dann zog ich die »heilige Schublade« auf. Die Porzellanschüssel war weg. An ihrer Stelle lagen winzige gestrickte Schühchen, die kaum mehr als vier oder fünf Zentimeter lang waren, eine ebenso winzige Mütze, Strampler und Nickihöschen mit Gummibündchen.
Ich sprang mit einem Satz hoch.
Eine Nachricht, die ich vor ein paar Wochen irgendwo gelesen hatte, schoss mir in den Kopf: 72-jährige Italienerin bringt gesunden Jungen zur Welt!
Ich suchte meine Mutter.
Sie stand, einen Teller mit Kuchen in der Hand, eine Gabel in der anderen, draußen in der Sonne.
Ich platzte mitten ins Gespräch.
»Mama, kommst du bitte mal mit?«
Ich zog an ihrem Ärmel wie das kleine ungeduldige Kind, das ich einmal gewesen war.
»Was ist denn?«
»Komm bitte mal mit. Jetzt.«
Sie zuckte mit den Schultern, legte die Gabel auf den Teller und stellte beides weg. Dann folgte sie mir.
»Was hast du denn?«
Ich zog sie hinter mir her durch die Küche, den Flur bis in ihr Schlafzimmer. Hinter uns schloss ich die Tür.
»Was ist das?« Ich deutete auf die Babywäsche.
»Das ist die Erstlingsausstattung.«
»Für welches Kind?«
»Na, für dein Kind!«
»Ich habe aber kein Kind, Mama.«
Ich breitete die Arme aus und zeigte um mich herum. »Oder siehst du hier irgendwo ein Kind?«
»Nein. Leider nicht.«
»Was soll das denn heißen?«
»Sie setzte sich auf die Bettkante, nahm den Strampler in die Hände und betrachtete ihn wie ein seltsames Objekt.«
»Das soll heißen, dass du dir gar nicht vorstellen kannst, was ich durchmache!« Sie ließ die Arme fallen. Der Strampler lag auf ihrem Schoß. Zerknüllt.
Ich war sprachlos. Was, bitte schön, machte meine Mutter durch, wovon ich nichts wusste? Litt sie darunter, dass sie vor fünfzehn Jahren in die Wechseljahre gekommen war und keine Kinder mehr bekommen konnte?
»Weißt du eigentlich, wie es ist, wenn man sich mit seinen Freundinnen trifft und alle von ihren süßen
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