Kein Kind ist auch (k)eine Lösung
Enkeln erzählen? Wie groß sie sind, wie sie die ersten Schritte gemacht haben, wie sie das erste Mal ›Oma‹ gesagt haben? Weißt du, wie es ist, wenn man dabeisitzt und zum Zuhören verdammt ist, nie mitreden kann? Wenn man immer nur hört, wie glücklich die anderen sind. Das kannst du dir gar nicht vorstellen, Charly!« Sie holte tief Luft. »Und wenn ich dann mal etwas von dir als kleinem Kind zum Besten gebe, hört niemand zu, weil das olle Kamellen sind, schon hundertmal erzählt, und du eben nicht mehr klein und niedlich bist.«
Ich sah sie an, als wäre sie eine fremde Frau. »Soll ich mich jetzt bei dir dafür entschuldigen, dass ich kein Kind habe?«
»Nein, aber vielleicht kommt ja jetzt, wo du endlich den Richtigen gefunden hast, bald mal ein Enkelchen.« Sie legte die Wäsche zurück in die Kommode und schob sie zu.
Das klang ja, als hätte sie es gern mit rosa Schleife um den Hals unterm Christbaum liegen.
»Und was machst du eigentlich in meinem Schlafzimmer?« Sie sah mich kurz an, schüttelte den Kopf und ging.
Ich konnte es nicht fassen und setzte mich aufs Bett. Auf seine Hälfte.
Auf der Rückfahrt war ich immer noch völlig konsterniert.
»Was ist denn los?«, fragte Micha schließlich.
»Meine Mutter wird gemobbt, und ich bin schuld!«
»Von wem wird sie gemobbt?«
»Von ihren Freundinnen.«
»Und warum?«
»Weil sie immer noch nicht Oma ist. Alle haben Enkelkinder, nur meine Mutter nicht.«
Und dann kam der Satz, der mir den Rest gab. Micha legte seinen Arm um mich und flüsterte: »Na, dann lass uns doch einfach direkt nach Hause fahren und das ändern.«
Ich bremste mitten auf der Stresemannstraße, dort, wo keine Ampel war.
»Bitte?«
Hinter uns hupten mehrere Wagen.
»Was hast du denn?«
»Was ich habe? Ich habe kein Kind. Das habe ich. Und das ist auch gut so – dachte ich zumindest bis gerade eben.«
Das Hupen wurde penetranter.
»Okay, wir fahren jetzt einfach weiter. Das könnte einen Stau verhindern, und dann sprechen wir in Ruhe darüber.«
Zu Hause wurde es trotz Ruhe, zumindest der äußeren, nicht viel besser.
Michael kam nicht nur aus einer Familie mit – für mich als Einzelkind – unverhältnismäßig vielen Kindern, sondern war außerdem der Meinung, Kinder gehörten zum Leben mit dazu wie der Kaffee zum Frühstück und »Die drei Fragezeichen« zum Einschlafen.
Und zu meinem Leben gehörte jetzt die Erkenntnis, was er damals nachts, bevor wir zusammengezogen waren, gemeint hatte, als er sagte: »Ist doch egal.«
Denn der ganze Satz hieß offenbar: Ist doch egal, dann wirst du halt schwanger, und wir bekommen Nachwuchs, den ich mir schon so lange wünsche.
»Was hast du denn für ein Problem mit Kindern?«, fragte er mich, als wir eine halbe Stunde später das Thema wieder aufnahmen.
»Ich? Ich habe gar kein Problem mit Kindern. Ich möchte nur gerade keines haben.«
»Und warum nicht?«
»Weil ich nicht das Gefühl habe, dass etwas in meinem Leben fehlt. Es ist doch alles gut so, wie es ist, oder? Fehlt dir etwas?«
Ich hielt die Luft an.
Micha ließ sich Zeit. Wir hatten uns in die Küche an den Tisch gesetzt. Dieses Thema war nichts fürs Kuschelsofa. Er sah von mir weg, aus dem Fenster, in Richtung Hinterhof.
»Im Moment nicht, aber irgendwann schon. Ehrlich gesagt, war es mir immer klar, dass ich eines Tages Kinder haben werde. Das habe ich bisher nie infrage gestellt.« Er machte eine Pause. »Kinder sind etwas ganz Besonderes. Sie geben einem eine völlig andere Sicht auf die Dinge.«
»Ja, das kann man wohl so sagen«, murmelte ich und hob meinen Becher an.
»Was meinst du damit?«
Ich nahm einen Schluck Kakao, setzte den Becher wieder ab.
»Ist dir schon mal aufgefallen, dass das Leben mit Kind ein anderes ist als ohne Kind? Das ist eine knallharte Belastungsprobe. Mehr als die Hälfte aller Paare trennen sich im ersten Jahr – nicht vom Baby, sondern voneinander. Mag sein, dass sich manch einer durch ein Kind erst komplett fühlt.«
Micha sah mich an, als hätte er eine Fremde vor sich sitzen, die wirres Zeug redete.
»In den letzten Jahren habe ich nicht nur dank meiner Freundinnen, sondern auch durch die Teilnahme am öffentlichen Leben mehr als genug Erfahrungen sammeln dürfen – ungewollt. Ich will das alles nicht, was ich da gesehen habe. Ich will kein anderes Leben. Ich will dieses!«
»Ich will gar nicht behaupten, es würde sich nichts ändern. Klar ändern sich ein paar Sachen, aber das muss doch nicht schlimm
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