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Kein Kinderspiel

Kein Kinderspiel

Titel: Kein Kinderspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Lehane
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nicht ohne sie leben konnten. Er wußte, wie man eine Tüte Heroin vor den Augen einer abhängigen Frau hin-und herschwingen läßt, sie dann dazu bringt, fremden Männern einen dafür zu blasen und ihr schließlich nur halb soviel gibt, wie man versprochen hat. Er wußte, wie man Halbwahrheiten vor den Augen von Bullen und Staatsanwälten aufdeckt, sie dazu bringt, auf der gestrichelten Linie zu unterschreiben und ihnen dann nur einen Abklatsch von dem liefert, das man ihnen versprochen hat.
    »Ich brauche mehr«, forderte ich.
    Der Wachmann klopfte gegen die Tür und sagte: »Noch sechzig Sekunden, Insasse Olamon.«
    »Mehr? Was willst du noch?«
    »Ich will das Mädchen«, sagte ich. »Ich will sie jetzt.«
    »Ich weiß nicht…«
    »Leck mich am Arsch.« Ich schlug gegen die Scheibe. »Wo ist sie, Cheese? Wo ist sie?«
    »Wenn ich es dir sage, dann wissen sie, daß ich es war, und ich bin morgen früh tot.« Er entfernte sich rückwärts, die Hände erhoben, das breite Gesicht angsterfüllt.
    »Gib mir was Handfestes. Irgendwas, wo ich mich dranhängen kann.«
    »Unabhängige Beweise«, schlug Angie vor.
    »Unabhängige was?«
    »Noch dreißig Sekunden«, meldete der Wachmann.
    »Gib uns irgendwas, Cheese.«
    Cheese blickte verzweifelt über die Schulter, dann auf die ihn umgebenden Mauern und die dicke Glasscheibe zwischen uns.
    »Los!« drängte ich ihn.
    »Zwanzig Sekunden«, sagte Angie.
    »Nicht! Paßt auf…«
    »Fünfzehn.«
    »Nein, ich…«
    »Tick-tack«, sagte ich. »Tick-tack.«
    »Der Freund von der Schlampe«, zischte Cheese. »Wißt ihr Bescheid?«
    »Der ist nicht mehr da«, erwiderte Angie.
    »Dann sucht ihn«, flüsterte Cheese. »Mehr hab’ ich nicht. Fragt ihn, wo er in der Nacht war, als das Mädchen verschwand. «
    »Cheese…« begann Angie.
    Hinter ihm stand drohend der Wachmann und legte ihm die Hand auf die Schulter.
    »Egal, was ihr glaubt«, sagte Cheese, »ihr seid nicht mal annähernd dran. Ihr liegt so meilenweit daneben, daß ihr genausogut im gottverdammten Grönland sein könntet. Verstanden?«
    Der Wachmann nahm ihm das Telefon aus der Hand.
    Cheese stand auf und ließ zu, daß ihn der Wachmann zur Tür zerrte. Als dieser die Tür öffnete, blickte sich Cheese noch einmal um und formte mit den Lippen ein Wort: »Grönland.«
    Mehrmals zog er die Augenbrauen hoch, dann schob ihn der Wachmann durch die Tür.
    Am nächsten Tag fanden die Taucher im See des Steinbruchs von Granite Rail ein zerschlissenes Stück Stoff, das auf einen Granitzacken gespießt war, der fünf Meter unter der Wasseroberfläche wie ein Eispickel aus einem Felsvorsprung an der Südwand emporragte.
    Um drei Uhr identifizierte Helene den Stoff als Teil des TShirts, das ihre Tochter in der besagten Nacht getragen hatte. Der Fetzen war aus dem Rückenteil des TShirts gerissen worden, direkt unter dem Kragen. Mit einem Filzstift waren die Initialen A McC daraufgeschrieben worden.
    Nachdem Helene den Stoff im Wohnzimmer von Beatrice und Lionel identifiziert hatte, sah sie Broussard zu, der den rosa Fetzen wieder in der Plastiktüte verstaute. In ihrer Hand zerbrach das Glas mit Pepsi.
    »Jesses«, rief Lionel. »Helene!«
    »Sie ist tot, stimmt’s?« Helene ballte die Hand zu einer Faust, so daß die Glassplitter noch tiefer ins Fleisch schnitten. In dicken Tropfen fiel das Blut auf den Holzboden.
    »Miss McCready«, sagte Broussard, »das wissen wir nicht. Zeigen Sie mir mal bitte Ihre Hand.«
    »Sie ist tot«, wiederholte Helene, diesmal lauter. »Stimmt das?« Sie entzog Broussard die Hand. Das Blut tropfte auf den Couchtisch.
    »Helene, um Himmels willen!« Lionel legte seiner Schwester eine Hand auf die Schulter und griff nach der verletzten Hand.
    Helene wich ihm aus und verlor das Gleichgewicht, fiel zu Boden und blieb dort sitzen. Die Hand wiegend, blickte sie zu uns auf. Sie sah mich an, und mir fiel wieder ein, daß ich sie bei Mini-Dave dumm genannt hatte.
    Sie war nicht dumm, sie war betäubt. Sie nahm nichts richtig wahr, weder die Welt an sich, die Gefahr, in der sich ihre Tochter befunden hatte, noch die Glassplitter, die sich in ihr Fleisch, ihre Sehnen und Arterien gruben.
    Doch langsam erreichte sie der Schmerz. Endlich brach er durch. Während sie mir in die Augen sah, wurden ihre Pupillen immer größer und heller. Die Wahrheit hatte sie gefunden. Es war ein grausames Erwachen, das wie eine Kernschmelze in ihre Pupillen stieg. Es wurde von der Erkenntnis begleitet, was die eigene Ignoranz die

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