Kein Kinderspiel
Handgelenken bis auf die Knochen durchgescheuert war. Seit er das Haus seiner Mutter verlassen hatte, hatte er nichts anderes als Kartoffelchips, Maischips und Bier zu sich genommen.
Weniger als eine Stunde, bevor wir das Haus der Tretts betreten hatten, hatte entweder Corwin Earle oder einer der beiden Tretts (vielleicht auch alle drei gemeinsam, wer wußte das schon, aber was machte es für einen Unterschied?) dem Jungen mit einem Messer zuerst ins Herz gestochen und ihm dann den Hals durchschnitten, wobei die Halsschlagader durchtrennt wurde.
Ich hatte den Morgen und den Großteil des Nachmittags in unserem vollgestopften Büro im Glockenturm der Kirche St. Bartholomew verbracht, hatte das Gewicht des großen Bauwerks um mich gespürt, die zum Himmel aufragenden Türme. Ich starrte aus dem Fenster. Ich versuchte, nicht zu denken. Ich saß einfach nur da und trank kalten Kaffee. In der Brust und im Kopf spürte ich ein leises Ticken.
In der vergangenen Nacht war Angies Knöchel in der Notaufnahme des New England Med gerichtet und gegipst worden. Heute morgen war sie ganz früh, als ich gerade aufwachte, mit einem Taxi zu ihrem niedergelassenen Arzt gefahren, damit er sich die Arbeit seiner Kollegen aus der Notaufnahme ansah und ihr sagte, was sie nun zu erwarten hatte, da ihr Bein in Gips lag.
Als ich von Broussard die Angaben über Samuel Pietro erhalten hatte, verließ ich unser Büro im Glockenturm und ging die Treppe hinunter in die Kapelle. Im stillen Halbdunkel setzte ich mich in die erste Reihe, roch den noch in der Luft liegenden Duft von Weihrauch und Chrysanthemen, blickte den Heiligen in den Bleiglasfenstern in die funkelnden Augen und beobachtete die Lichter der kleinen Votivkerzen, die auf dem Altargeländer aus Mahagoni flackerten. Warum, fragte ich mich, hatte ein achtjähriges Kind nur so lange auf dieser Erde leben dürfen, bis es alles Abscheuliche in ihr kennengelernt hatte.
Ich blickte zu dem Jesus im Bleiglasfenster über dem goldenen Tabernakel hinauf, der seine Arme ausbreitete.
»Acht Jahre alt«, flüsterte ich. »Erklär mir das mal!«
Kann ich nicht.
Kannst du nicht oder willst du nicht? Keine Antwort. Aber da befindet sich Gott in bester Gesellschaft.
Du setzt ein Kind in diese Welt und gestehst ihm acht Jahre zu. Du läßt zu, daß es vierzehn Tage lang entführt, gefoltert, gequält und vergewaltigt wird - mehr als 330 Stunden, 19.800 lange Minuten lang -, und dann schenkst du ihm zum Abschluß, als letztes Bild, die Gesichter seiner Peiniger, die ihm die Klinge ins Herz stoßen, ihm das Fleisch aus dem Gesicht schneiden und das Blut aus seinem Hals auf den Boden des Badezimmers laufen lassen.
Worauf willst du hinaus?
»Worauf willst du denn hinaus?« fragte ich laut. Meine Stimme hallte von den Wänden wider.
Stille.
»Warum?« flüsterte ich.
Wieder Stille.
»Darauf gibt es keine verfluchte Antwort, stimmt’s?«
In der Kirche wird nicht geflucht!
Da wußte ich, daß das nicht Gottes Stimme in meinem Kopf war. Eher die meiner Mutter oder einer toten Nonne. Ich bezweifle nämlich, daß sich Gott in so einer Zeit der Not an technischen Fragen aufhalten würde.
Aber andersherum, was wußte ich schon? Vielleicht war Gott, wenn er denn existierte, genauso kleingeistig und albern wie wir auch. Und wenn das stimmte, konnte ich ihn nicht als Gott anerkennen.
Und doch blieb ich in der Bank sitzen. Ich war unfähig, mich zu bewegen.
Ich glaube an Gott, aber weshalb?
Wegen der Gaben, die er Menschen wie Van Gogh, Michael Jordan, Stephen Hawking oder Dylan Thomas verliehen hat - sie waren für mich immer so etwas wie ein Beweis für die Existenz Gottes. Und die Liebe.
Ja, gut, ich glaube an dich. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich dich auch mag.
Das ist deine Sache.
»Wozu soll es gut sein, wenn ein Kind mißbraucht und getötet wird?«
Stell keine Fragen, die dein Hirn nicht beantworten kann.
Eine Weile sah ich den flackernden Kerzen zu, nahm die Stille in mir auf, schloß die Augen und wartete auf den Augenblick, in dem ich Transzendenz, den Zustand der Gnade oder des Friedens erlangen würde, oder wie auch immer der Zustand genannt wurde, auf den man warten sollte, wenn die Welt einem über ist. So hatten es mich die Nonnen gelehrt.
Nach ungefähr einer Minute schlug ich die Augen wieder auf. Aus dem Grund bin ich wohl nie ein erfolgreich praktizierender Katholik geworden: Mir fehlte die Geduld.
Die rückwärtige Tür der Kirche wurde geöffnet, und ich hörte
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