Kein Kinderspiel
Angies Krücken klappernd gegen das Holz fallen, hörte sie »Scheiße« sagen, dann fiel die Tür ins Schloß, und sie trat auf den Treppenabsatz zwischen Kapelle und Treppenhaus zum Glockenturm. Sie bemerkte mich erst, als sie sich umdrehte, um die Treppe hinaufzusteigen. Unbeholfen wand sie sich um, sah mich an und lächelte.
Sie humpelte die beiden mit Teppich belegten Stufen zur Kapelle herunter und schob sich an den Beichtstühlen und dem Taufbecken vorbei. Neben der Altarumfassung vor der Bank, in der ich saß, hielt sie inne und hievte sich hoch, die Krücken lehnte sie neben sich gegen die Brüstung.
»Hey!«
»Hey!« grüßte ich zurück.
Sie blickte zum Gemälde vom Letzten Abendmahl an der Decke auf und sah mich dann wieder an. »Du sitzt hier vor dem Altar, und die Kirche ist nicht zusammengefallen!«
»Wahnsinn, hm?« gab ich zurück.
Wir saßen eine Weile da, keiner von uns sagte etwas. Angie legte den Kopf in den Nacken und betrachtete die Decke, die Schnitzereien am Abschluß des nächsten Stützpfeilers.
»Wie lautet das Urteil über das Bein?«
»Der Arzt sagt, es ist eine Belastungsfraktur der unteren linken Fibula.«
Ich grinste. »Das erzählst du gerne, was?«
»Belastungsfraktur der Fibula?« Sie lächelte breit zurück. »O ja. Dann komm’ ich mir vor, als würde ich bei Emergency Room mitspielen. Als nächstes sage ich dir, du sollst ein EKG machen und den Blutdruck messen. Schwester, Tupfer bitte.«
»Der Arzt hat dir bestimmt gesagt, du sollst ‘ne Zeitlang aussetzen, oder?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Ja, aber das sagen sie ja immer.«
»Wie lange muß der Gips dranbleiben?«
»Drei Wochen.«
»Kein Aerobic.«
Sie zuckte wieder mit den Achseln, «‘ne ganze Menge Dinge nicht.«
Ich blickte kurz auf meine Schuhe, dann wieder zu ihr auf.
»Was ist?« fragte sie.
»Es tut so weh. Das mit Samuel Pietro. Ich komme da einfach nicht drüber weg. Als Bubba und ich gestern im Haus waren, lebte er noch. Er war oben, und er war… wir…«
»Du warst zusammen mit drei schwerbewaffneten, völlig abgedrehten Kriminellen in einem Haus. Du hättest nie und nimmer…«
»Diese Leiche«, begann ich wieder. »Sie war…«
»Ist bestätigt worden, daß es seine Leiche war?«
Ich nickte. »Er war so klein. Er war so klein«, flüsterte ich. »Er war nackt und zerschnitten und… o Gott, o Gott.« Ich wischte mir die brennenden Tränen aus den Augen und legte den Kopf in den Nacken.
»Mit wem hast du gesprochen?« erkundigte sich Angie leise. »Mit Broussard.« »Wie geht’s ihm?« »Ungefähr so wie mir.« »Gibt’s Nachrichten von Poole?« Sie beugte sich leicht vor. »Sieht schlecht aus mit ihm, Ange. Sie glauben nicht, daß er durchkommt.«
Sie nickte und hielt den Kopf eine Weile gesenkt. Das gesunde Bein ließ sie hin und her baumeln.
»Was hast du in diesem Badezimmer gesehen, Patrick? Ich meine, was genau?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Los, komm«, drängte sie mich sanft. »Ich bin’s doch nur.
Ich kann’s verkraften.«
»Ich aber nicht«, gab ich zurück. »Nicht noch mal. Nicht noch mal. Wenn ich auch nur kurz dran denke, schießt mir das Bild wie ein Blitz durch den Kopf, und ich will sterben. Ich möchte es nicht mehr mit mir herumtragen. Ich möchte sterben, damit es weggeht.«
Sie ließ sich vorsichtig von der Brüstung gleiten und zog sich an der Bank entlang. Ich rückte zur Seite, und sie setzte sich neben mich. Sie nahm mein Gesicht in ihre Hände, doch konnte ich ihr nicht in die Augen sehen. Ich war überzeugt, daß ich mich irgendwie noch besudelter fühlen würde, noch mehr aus der Bahn geworfen, wenn ich die Wärme und Liebe in ihren Augen sah. Sie küßte mich auf die Stirn und auf die Augenlider, küßte die trocknenden Tränen auf meinen Wangen, lehnte meinen Kopf gegen ihre Schulter und küßte mich in den Nacken.
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, flüsterte sie.
»Sag einfach nichts.« Ich räusperte mich und schlang die Arme um ihren Bauch. Ich konnte ihren Herzschlag hören. Sie fühlte sich so wunderbar, so herrlich an. Sie fühlte sich an wie alles, das gut war auf dieser Welt. Und ich wollte noch immer sterben.
Am Abend versuchten wir uns zu lieben, und am Anfang ging es auch ganz gut. Es war sogar lustig, als wir versuchten, mit dem Gips zurechtzukommen, und Angie kicherte die ganze Zeit, weil sie starke Schmerzmittel bekommen hatte. Doch als wir beide nackt waren und das Mondlicht durch das Schlafzimmerfenster fiel,
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