Kein Kinderspiel
aufzusetzen. »Was?«
»Letztes Jahr«, begann ich, »als Ray Likanski uns in der Bar eingeschlossen hat und dann verschwand.«
»Was war damit?«
»Broussard hat damals gesagt, er würde den Typ kaum kennen. Er wäre einer von Pooles Informanten.«
»Ja. Und?«
»Heute abend, als er schon einen halben Liter Rum intus hatte, hat er mir erzählt, Ray wäre sein Spitzel gewesen.«
Sie beugte sich zum Nachttisch herüber und knipste das Licht an. »Was?«
Ich nickte.
»Also… also hat er sich letztes Jahr vielleicht einfach vertan. Oder wir haben uns verhört.«
Ich sah sie an.
Schließlich hob sie die Hand und nahm mit der anderen die Packung Zigaretten vom Nachttisch. »Du hast recht. Wir Verhören uns nicht.«
»Nicht beide zusammen.«
Sie zündete sich eine Zigarette an und zog die Decke hoch. Dann kratzte sie sich am Knie über dem Gips. »Warum sollte er lügen?«
»Vielleicht hatte er einen Grund zu verschweigen, daß Ray sein Informant ist.«
Ich trank einen Schluck Kaffee. »Möglich, aber das hört sich zu einfach an, oder? Im Fall Amanda McCready ist Ray sozusagen der Kronzeuge, und Broussard behauptet, er kenne ihn nicht. Das kommt mir…«
»… fragwürdig vor.«
Ich nickte. »Bißchen schon. Und noch was!«
»Was denn?«
»Broussard setzt sich bald zur Ruhe.«
»Wie bald?«
»Weiß ich nicht genau. Hörte sich nach sehr bald an. Er meinte, er habe bald zwanzig Jahre um, und wenn es soweit sei, würde er sein Abzeichen abgeben.«
Sie zog an der Zigarette und betrachtete mich über die glühende Asche hinweg. »Gut, er hört auf. Und?«
»Letztes Jahr, kurz bevor wir zum Steinbruch hochstiegen, da hast du einen Witz gemacht.«
Sie legte die Hand auf die Stirn. »Ich?«
»Ja. Du hast so was gesagt wie: Wird Zeit, daß wir in Rente gehen.«
Ihre Augen leuchteten auf. »Ich hab’ gesagt: Vielleicht ist es an der Zeit, die Arbeit an den Nagel zu hängen.«
»Und was hat er geantwortet?«
Sie beugte sich vor, stützte die Ellenbogen auf den Knien ab und dachte nach. »Er meinte…« Mehrmals stach sie mit der Zigarette in die Luft. »Er meinte, das könnte er sich nicht leisten. Irgendwas mit Krankenhausrechnungen.«
»Wegen seiner Frau, oder?«
Sie nickte. »Sie hatte kurz vor der Hochzeit einen Autounfall gehabt, aber sie war nicht versichert. Er hatte einen Berg Schulden beim Krankenhaus.«
»Und was ist nun mit diesen Rechnungen passiert? Meinst du, das Krankenhaus hat einfach gesagt, ach, du bist so ein netter Kerl, vergiß das Geld?«
»Eher unwahrscheinlich.«
»Absolut unwahrscheinlich. Ein armer Polizist verheimlicht, daß er einen wichtigen Zeugen im Fall McCready kennt, und sechs Monate später hat dieser Bulle genug Geld, um in den vorzeitigen Ruhestand zu gehen - und zwar nach nur zwanzig Dienstjahren, was viel weniger Pension ergibt als nach dreißig Dienstjahren.«
Eine Weile kaute sie auf der Unterlippe herum. »Kannst du mir bitte ein T-Shirt geben?«
Ich zog die Kommode auf, nahm ein dunkelgrünes T-Shirt der Saw Doctors aus ihrer Schublade und reichte es ihr. Sie zog es über den Kopf und trat die Decke zur Seite. Dann blickte sie sich nach den Krücken um. Als sie mich ansah, merkte sie, daß ich in mich hineinkicherte.
»Was ist?«
»Du siehst ziemlich komisch aus.«
Ihr Gesicht wurde dunkelrot. »Wieso bitte?«
»So wie du hier in meinem T-Shirt mit dem riesigen weißen Gipsbein sitzt.« Ich zuckte mit den Achseln. »Sieht einfach nur komisch aus.«
»Haha«, sagte sie. »Wo sind meine Krücken?«
»Hinter der Tür.«
»Bist du so lieb?«
Ich brachte sie ihr, und sie kam mühsam auf die Beine. Dann folgte ich ihr durch den dunklen Flur in die Küche. Die Digitalanzeige der Mikrowelle zeigte 4:04 Uhr an, und ich spürte die Müdigkeit in den Knochen und im Nacken, doch war mein Kopf vollkommen wach. Als Broussard auf dem Spielplatz von Ray Likanski sprach, hatte etwas in meinem Kopf aufgemerkt und arbeitete jetzt mit Volldampf. Das Gespräch mit Angie hatte mich nur noch mehr angespornt.
Während Angie uns eine halbe Kanne entkoffeinierten Kaffee kochte und Sahne aus dem Kühlschrank und Zucker aus dem Schrank holte, ging ich noch einmal die Nacht aller Nächte im Steinbruch durch, als wir Amanda McCready für immer verloren hatten, wie es schien. Ich wußte, daß sich die meisten Informationen, die ich nun versuchte, mir in Erinnerung zu rufen, in meinem Aktenordner über den Fall befanden, doch wollte ich jetzt noch nicht auf meine
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