Kein Kinderspiel
zwischen Broussard und mich. Plötzlich wirkte er sehr alt. Er sah nicht mehr bedrohlich aus, sondern bedroht. Der koboldhafte Schalk war aus seinem Gesicht verschwunden.
»Was ist«, fragte er so leise, daß ich mich vorbeugen mußte, um ihn zu verstehen, »wenn Cheese uns etwas beweisen, aber nicht auf sein Geld verzichten will?«
»Wenn er uns nur ködern will?« fragte Broussard.
Poole vergrub die Hände in den Hosentaschen und stemmte Rücken und Schultern gegen den plötzlich aufkommenden Wind.
»Möglicherweise haben wir unsere Karten aufgedeckt, Remy.«
»Wieso?«
»Cheese weiß, daß wir das Kind unbedingt zurückhaben wollen. Wir würden sogar gegen das Gesetz verstoßen, unsere Ausweise zu Hause lassen und uns auf einen Austausch ohne Polizei einlassen.«
»Und wenn Cheese als Sieger aus dieser Sache hervorgehen will…«
»Dann darf kein anderer einen Vorteil daraus ziehen«, ergänzte Poole.
»Wir müssen uns an Chris Mullen halten«, schlug ich vor. »Wir müssen sehen, wohin er uns führt. Bevor der Austausch über die Bühne geht.«
Poole und Broussard nickten.
»Mr. Kenzie!« Broussard streckte mir die Hand entgegen. »Ich war da drinnen eben von der Rolle. Ich hab’ mich von dem Gauner zu etwas hinreißen lassen und hätte die ganze Sache damit beinahe versaut.«
Ich ergriff seine Hand. »Wir holen die Kleine nach Hause.«
Er drückte zu. »Lebendig.« »Lebendig«, wiederholte ich.
»Meinst du, Broussard hält dem Druck nicht stand?« fragte Angie.
Wir saßen im Auto, das am Rand des Bankenviertels auf der Devonshire Street geparkt war, und beobachteten die Rückseite von Devonshire Place, dem Hochhaus, in dem Chris Mullen eine Wohnung besaß. Die Beamten von der Ermittlungsgruppe Kind, die Mullen bisher verfolgt hatten, waren zum Schlafen nach Hause gefahren. Auch die anderen wichtigen Leute von Cheese’ Truppe wurden von zweiköpfigen Teams bewacht. Broussard und Poole hatten die Vorderseite des Gebäudes auf der Washington Street übernommen. Es war kurz nach Mitternacht. Mullen war seit drei Stunden zu Hause.
Ich zuckte mit den Achseln. »Hast du Broussards Gesicht beobachtet, als Poole erzählte, wie er die Leiche von Jeannie Minnelli in einem Faß mit Zement fand?«
Angie schüttelte den Kopf.
»Es sah viel schlimmer aus als das von Poole. Broussard sah aus, als würde er jeden Moment einen Nervenzusammenbruch bekommen. Seine Hände fingen an zu zittern, er wurde ganz weiß im Gesicht, die Haut glänzte. Der Mann sah echt schlimm aus.« Ich blickte zu den drei erleuchteten Fenstern im vierzehnten Stockwerk hinauf, die zu Mullens Wohnung gehörten. Eins davon wurde dunkel. »Vielleicht ist er kurz vorm Durchdrehen. Bei Cheese hat er auf jeden Fall überreagiert, das steht fest.«
Angie zündete sich eine Zigarette an und machte das Fenster einen Spaltbreit auf. Die Straße war ruhig. Wie ein Fluß wand sie sich durch eine Schlucht von Häuserfronten aus weißem Kalkstein und schimmernden Wolkenkratzern mit blauer Verglasung. Die Gegend sah aus wie ein Drehort bei Nacht, ein riesiges Modell der Wirklichkeit, das jedoch nicht von echten Menschen bewohnt wurde. Tagsüber herrschte auf der Devonshire Street ein manchmal heiteres, manchmal fast aggressives Durcheinander von Fußgängern und Börsenmaklern, Rechtsanwälten und Sekretärinnen, Fahrradkurieren, Lkws und hupenden Taxis, Aktenkoffern, Krawatten und Handys. Aber ungefähr ab neun Uhr abends war Schluß, und wenn man dann in einem Auto inmitten der riesigen, leeren Gebäude saß, fühlte man sich wie ein Ausstellungsstück in einem riesigen Museum, nachdem die Lichter gelöscht und die Wachleute gegangen waren.
»Weißt du noch, als Glynn auf mich geschossen hat?« fragte Angie.
»Ja.«
»Kurz davor, als ich mit dir und Evandro im Dunkeln kämpfte und die ganzen Kerzen in meinem Schlafzimmer wie Augen leuchteten, da weiß ich noch, daß ich gedacht habe, ich halte es nicht länger aus. Ich kann kein bißchen, kein einziges Stück mehr von mir in diese Gewalt und die ganze Scheiße stecken.« Sie sah mich an. »Vielleicht geht es Broussard ja auch so. Ich meine, wie oft kann man ein Kind in Zement eingemauert finden?«
Ich dachte über den Ausdruck in seinen Augen nach, nachdem er Cheese geschlagen hatte. Das reine Nichts. Ein so absolutes Nichts, daß es selbst seinen Zorn verschluckt hatte.
Angie hatte recht. Wie oft konnte man ein totes Kind finden?
»Er würde die ganze Stadt abfackeln, wenn er glaubt, daß
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