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Kein Kinderspiel

Kein Kinderspiel

Titel: Kein Kinderspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Lehane
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notwendige Werkzeug mit, um sich selbst eine reinzuschneiden. Die Ranger waren unterbesetzt, doch selbst eine kleine Armee hätte ihre liebe Mühe gehabt, an einem glühendheißen Sommertag Hunderte von Kindern in Dutzenden von Steinbrüchen zu überwachen.
    Ich also war diese Hügelkette schon früher emporgeklettert. Vor fünfzehn Jahren. Bei Tageslicht.
    Jetzt war es ein bißchen anders. Erstens war ich nicht mehr wendig, wie ich als Teenager gewesen war. Zu viele Blutergüsse, Kneipentouren und Zusammenstöße im Dienst mit Menschen und Billardtischen - vor allem die Bekanntschaft mit einer Windschutzscheibe und kurz darauf mit der Straße - hatten meinem Körper die Beschwerden und ständigen dumpfen Schmerzen eines Mannes zugefügt, der entweder doppelt so alt war wie ich oder Profifootballer.
    Zweitens war ich, wie Broussard, nicht unbedingt der Mann aus den Bergen. Meine Vertrautheit mit einer Welt ohne Asphalt und Imbißbuden hielt sich in Grenzen. Einmal im Jahr unternahm ich mit meiner Schwester und ihrer Familie eine Wanderung zum Mount Rainier in Washington, und vor vier Jahren war ich von einer Frau, die sich für naturverbunden hielt, weil sie in den Läden der Army und Navy einkaufte, zu einer Campingtour durch Maine gezwungen worden. Die Reise war über drei Tage geplant gewesen, aber wir hatten es nur eine Nacht mit einer Dose Insektenabwehrmittel ausgehalten und waren dann auf der Suche nach weißen Bettlaken und Zimmerservice nach Camden gefahren.
    Ich dachte über meine Begleiter nach, während wir die Böschung zum Steinbruch von Granite Rail hochstiegen. Ich hätte darauf gewettet, daß keiner von ihnen überhaupt die erste Nacht jener Campingtour damals überstanden hätte, vielleicht wären wir bei Tageslicht, mit ordentlichen Wanderschuhen, einem stabilen Stock und einem erstklassigen Skilift gut vorangekommen, aber so brauchten wir zwanzig Minuten, bis wir zum ersten Mal das Wasser riechen konnten. Zwanzig Minuten, in denen wir aufwärts stapften, die Taschenlampen auf die Fußabdrücke der anderen und gelegentlich auf eine Schwelle der Eisenbahnlinie gerichtet, die vor fast hundert Jahren eingestellt worden war.
    Nichts roch so sauber, kalt und vielversprechend wie das Wasser in Steinbrüchen. Ich wußte nicht, was der Grund dafür war, denn eigentlich war es ja nichts anderes als jahrzehntelang gesammeltes Regenwasser zwischen Granitwänden, erneuert und ergänzt von unterirdischen Quellen. Doch sobald der Geruch an meine Nase drang, war ich wieder sechzehn und spürte den Druck in meiner Brust, wenn ich vom Rand des Heaven’s Peak sprang, einer zwanzig Meter hohen Klippe im Swingle’s Quarry. Wieder sah ich das hellgrüne Wasser wie eine ausgestreckte Hand auf mich warten, fühlte mich wieder schwerelos und körperlos - reiner Geist in der ehrfurchtgebietenden Leere um mich herum. Dann fiel ich, und die Luft wurde zu einem Tornado, der aus dem immer näher kommenden grünen See emporschoß, und die bunten Graffiti auf den Felsvorsprüngen, an den Wänden und Klippen um mich herum explodierten, entluden sich zu roten, schwarzen, goldenen und blauen Tönen, und plötzlich konnte ich den kalten, sauberen und beängstigenden Geruch vom Regenwasser eines ganzen Jahrhunderts riechen, kurz bevor ich auf das Wasser auftraf, die Zehen nach unten gestreckt, die Hände seitlich an den Körper gepreßt, und dann tauchte ich in die Tiefe ein, wo Autos, Kühlschränke und Leichen lagen.
    Im Laufe der Jahre, wenn die Steinbrüche mal wieder das Leben eines Kindes gefordert hatten, von den Leichen ganz zu schweigen, die mitten in der Nacht über die Klippen geworfen wurden und, wenn überhaupt, erst Jahre später entdeckt wurden, hatte ich in den Zeitungen oft die Frage gelesen, die sich Herausgeber, Bürgervereine und trauernde Eltern stellten: »Warum? Warum nur?«
    Warum verspürten Kinder - Steinbruchratten, wie wir uns damals nannten - das Bedürfnis, von Klippen, die bis zu 30 Meter emporragten, in bis zu 60 Meter tiefes Wasser zu springen, in dem sich plötzliche Vorsprünge, Autoantennen, Baumstämme und alles mögliche andere verbargen?
    Ich hatte keine Ahnung. Ich sprang, weil ich ein Kind war. Weil mein Vater ein Arschloch war und bei uns zu Hause immer Razzia gespielt wurde: Meine Schwester und ich verbrachten viel Zeit damit, ein Versteck vor unserem prügelnden Vater zu suchen. Das fanden wir nicht toll. Ich sprang, weil ich oft, wenn ich auf einem dieser Felsvorsprünge stand, über den

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