Kein Kuss unter dieser Nummer: Roman (German Edition)
deiner tollen Freundin Lucinda gesprochen.« Ich betone »Lucinda« ein wenig. »Und was sie mir erzählt hat, war doch – gelinde gesagt – ein Schock, also denke ich, wir sollten so bald wie möglich miteinander reden. Denn falls du nicht irgendeine wundersame Erklärung hast, was ich mir nicht vorstellen kann, würde Lucinda lügen. Irgendjemand lügt jedenfalls, Magnus. Irgendjemand …«
Piep .
Verdammt, die Maschine hat mich rausgeworfen.
Als ich mein Handy abstelle, verfluche ich mich. So viel zu meiner kurzen, knappen Nachricht. So viel zur völlig neuen Poppy. So hatte das überhaupt nicht laufen sollen.
Trotzdem, egal. Wenigstens habe ich angerufen. Wenigstens habe ich mir nicht die Ohren zugehalten und die Augen davor verschlossen. Und jetzt zum nächsten Punkt auf meiner Liste. Ich trete auf die Straße hinaus, hebe meine Hand und winke mir ein Taxi heran.
»Hi«, sage ich, als ich einsteige. »Ich möchte gern nach Hampstead, bitte.«
Ich weiß, dass Wanda heute zu Hause ist, weil sie meinte, sie müsste sich auf irgendeine Radiosendung vorbereiten, in der sie heute Abend auftritt. Und tatsächlich, als ich vor dem Haus halte, schallt Musik aus den offenen Fenstern. Ich habe keine Ahnung, ob Antony auch da ist, doch das ist mir egal. Sie können es ruhig beide hören. Als ich mich dem Haus nähere, zittere ich genauso wie neulich Abend – aber anders. Positiver. Es muss endlich raus.
»Poppy!« Als Wanda die Tür aufreißt, strahlt sie mich an. »Was für eine nette Überraschung!« Sie beugt sich vor, um mir einen Kuss zu geben, dann sieht sie mich an. »Kommst du nur mal so vorbei, oder gibt es was Bestimmtes …?«
»Wir müssen reden.«
Es folgt ein kurzer Moment des Schweigens. Sie scheint zu merken, dass ich nicht nur freundlich plaudern möchte.
»Verstehe. Na, dann komm rein!« Sie lächelt wieder, mir entgehen jedoch nicht ihr niedergeschlagener Blick und die zusammengepressten Lippen. Wanda hat ein sehr ausdrucksvolles Gesicht: Ihre Haut ist blass und empfindlich wie Seidenpapier, und die Fältchen um ihre Augen knittern sich auf unterschiedlichste Art und Weise, je nach Stimmung. Ich schätze, so ergeht es einem wohl ohne Botox, Make-up und Sonnenbank. Stattdessen bekommt man Ausdruck. »Soll ich Kaffee aufsetzen?«
»Warum nicht?« Ich folge ihr in die Küche, die etwa zehnmal so unordentlich ist wie neulich, als ich hier bei Magnus gewohnt habe. Unwillkürlich rümpfe ich die Nase, denn es stinkt – allem Anschein nach der eingewickelte Blumenstrauß, der auf dem Küchentresen vor sich hin gammelt. In der Spüle liegt ein Herrenschuh, daneben eine Haarbürste, und auf allen Stühlen stapeln sich alte Pappordner.
»Ah.« Wanda deutet vage um sich, als hoffte sie, einer der Stühle würde sich vielleicht auf magische Weise selbst aufräumen. »Wir haben hier gerade einiges aussortiert. Was soll man alles archivieren? Das ist die Frage.«
Es gab eine Zeit, in der ich mir eilig eine intelligente Antwort zum Thema Archive überlegt hätte. Doch jetzt sehe ich ihr offen ins Gesicht und sage barsch: »Ich wollte mit dir eigentlich über etwas anderes sprechen.«
»Nun«, sagt Wanda nach kurzer Pause. »Das hatte ich mir schon gedacht. Setzen wir uns.«
Sie nimmt einen Stapel Ordner von einem Stuhl und legt einen in Zeitungspapier eingewickelten Fisch frei. Okay. Daher kommt der Gestank.
»Da ist er ja! Erstaunlich.« Sie runzelt die Stirn, zögert einen Moment, dann legt sie die Ordner wieder obendrauf. »Versuchen wir’s im Salon.«
Ich setze mich auf eins der welligen Sofas, und Wanda schiebt einen antiken Stuhl heran, der von Stickereien überzogen ist. Es riecht nach altem Holzrauch, muffigen Kelims und einem ganzen Potpourri von Düften. Goldenes Licht fällt durch die alten Glasmalereien in den Fenstern. Dieser Raum ist typisch Tavish. Genau wie Wanda. Wie gewöhnlich sitzt sie in ihrer eigenwilligen Haltung da, die Knie gespreizt, den Trachtenrock um die Beine gewickelt, nach vorn geneigt, um zuzuhören, und fusselige Hennahaare umrahmen ihr Gesicht.
»Magnus …«, setze ich an, dann halte ich plötzlich inne.
»Ja?«
»Magnus …«
Wieder stutze ich. Einen Moment ist alles still.
Diese Frau hat einen solchen Einfluss auf mein Leben, obwohl ich sie kaum kenne. Unser Verhältnis zueinander ist kultiviert und distanziert, und wir haben uns immer nur über Oberflächliches unterhalten. Jetzt fühlt es sich an, als würde ich gleich die Trennwand zwischen uns
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