Kein Lebenszeichen
umbringen lässt, so wie wir uns überlegen würden, ob wir durch den Lincoln- oder den Holland-Tunnel fahren. Es geht nur darum, was praktischer ist. Er fühlt dabei nichts.«
Jetzt wusste ich, worauf er hinauswollte. »Und wenn McGuane rausgekriegt hätte, dass Ken zum Informanten geworden ist …«
»Dann wäre es aus mit ihm gewesen«, vollendete er meinen Satz. »Ihr Bruder kannte das Risiko. Wir haben ihn im Auge behalten, aber eines Nachts ist er einfach abgehauen.«
»Weil McGuane davon erfahren hat?«
»Glauben wir jedenfalls. Dann ist er bei Ihnen zu Hause aufgetaucht. Warum, wissen wir nicht. Wir nehmen an, er hat das für ein sicheres Versteck gehalten, vor allem, weil McGuane nie auf die Idee gekommen wäre, dass er seine Familie in Gefahr bringt.«
»Und dann?«
»Sie können sich inzwischen wahrscheinlich schon denken, dass Asselta auch für McGuane gearbeitet hat.«
»Wenn Sie es sagen«, sagte ich.
Er ging nicht darauf ein. »Für Asselta stand auch einiges auf dem Spiel. Sie haben Laura Emerson erwähnt, die auch in der Studentinnenverbinung war und ermordet wurde. Wir wissen von Ihrem Bruder, dass Asselta sie umgebracht hat. Sie wurde erdrosselt, das ist Asseltas bevorzugte Hinrichtungsmethode. Ken zufolge war Laura Emerson hinter die Drogengeschäfte in Haverton gekommen und hatte vor, die Polizei einzuschalten.«
Ich verzog das Gesicht. »Und deswegen haben sie sie umgebracht?«
»Ja, deswegen haben sie sie umgebracht. Was dachten Sie denn, dass die ihr ein Eis kaufen? Das sind Monster, Will. Geht das endlich in Ihren Dickschädel?«
Ich dachte daran, wie Phil McGuane damals zum Risiko-Spielen zu uns gekommen war. Er hatte immer gewonnen. Er war ruhig und aufmerksam gewesen, man musste unwillkürlich an stille Wasser denken. Ich glaube, er war Klassensprecher. Er hatte mich beeindruckt. Der Ghost war offensichtlich psychotisch. Dem traute ich alles zu. Aber McGuane?
»Irgendwie haben die rausgekriegt, wo sich Ihr Bruder versteckt hielt. Vielleicht hat der Ghost Julie vom College aus nach Hause verfolgt, das wissen wir nicht. Jedenfalls hat er Ihren Bruder bei den Millers erwischt. Unserer Ansicht nach wollte er beide umbringen. Sie sagen, Sie haben in der Nacht dort jemanden gesehen. Das glauben wir Ihnen. Wir gehen davon aus, dass es sich dabei um Asselta handelte. Seine Fingerabdrücke wurden am Tatort gefunden. Ken ist bei dem Angriff verwundet worden – daher das Blut –, dann aber irgendwie entkommen. Der Ghost ist mit Julie Millers Leiche zurückgeblieben.
Was ist da am naheliegendsten? Man inszeniert es so, dass es aussieht, als wäre Ken der Mörder gewesen. Wie hätte man ihn besser in Verruf bringen oder aus dem Land treiben sollen?«
Er hielt inne und machte sich über den nächsten Keks her. Er mied meinen Blick. Ich wusste, dass er womöglich log, doch die Geschichte klang wahr. Ich versuchte, mich zu beruhigen und das Erzählte zu verdauen. Ich behielt ihn im Auge. Er sah nur auf seinen Keks. Jetzt musste ich gegen die Wut ankämpfen.
»Sie haben also die ganze Zeit gewusst …«, ich hielt inne, schluckte, setzte neu an, »… Sie haben die ganze Zeit gewusst, dass Ken Julie nicht umgebracht hat.«
»Nein, das kann man nicht sagen.«
»Aber Sie haben doch eben …«
»Das ist eine Vermutung, Will. Wir nehmen an, dass es so gewesen ist. Genauso gut kann er sie umgebracht haben.«
»Das glauben Sie doch selbst nicht.«
»Erzählen Sie mir nicht, was ich glaube.«
»Was hätte denn Kens Motiv sein sollen?«
»Ihr Bruder war ein Verbrecher. Machen Sie sich da nichts vor.«
»Das ist kein Motiv.« Ich schüttelte den Kopf. »Was sollte das? Wenn Sie davon ausgingen, dass Ken sie nicht umgebracht hat, warum haben Sie dann immer darauf beharrt?«
Er antwortete nicht. Aber das war wohl auch gar nicht nötig. Plötzlich lag die Antwort auf der Hand. Ich sah zum Kühlschrank mit den Fotos hinüber. Sie erklärten vieles.
»Weil Sie Ken um jeden Preis wieder in die Finger kriegen wollten«, beantwortete ich meine eigene Frage. »Ken war der Einzige, der Ihnen McGuane ans Messer liefern konnte. Wenn Ihr Kronzeuge abgetaucht wäre, hätte das kaum jemand gekümmert. Die Presse hätte nicht darüber berichtet. Es wäre keine Großfahndung angelaufen. Aber wenn Ken eine junge Frau im
Keller ihres Elternhauses ermordet hat – die Schattenseite der Vororte –, dann bringt das ein gewaltiges Medienecho. Und Sie dachten, die Schlagzeilen würden ihm das
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