Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kein Lebenszeichen

Kein Lebenszeichen

Titel: Kein Lebenszeichen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
Vom Netzwerk:
Zimmer des missmutigen Mannes kamen seltsame Geräusche. Ich hörte genauer hin. Stöhnen. Quasi-leidenschaftliche Stöhnlaute vorgetäuschter Lust. Der Mann wich meinem Blick nicht aus, schien jedoch nicht unbedingt begeistert zu sein. Ich wich zurück. Spectravision, dachte ich. Filme auf dem Zimmer. Der Mann sah sich einen Ferkelfilm an. Porno interruptus.
    »Äh, tut mir Leid«, sagte ich.
    Er knallte die Tür zu.
    Na gut, Zimmer 912 konnte man streichen. Wollte ich jedenfalls sehr hoffen. Verrückt. Ich hob die Hand, um an der 914 zu klopfen, als eine Stimme sagte: »Kann ich Ihnen helfen?«
    Ich drehte mich um und sah am Ende des Flurs einen kurz geschorenen Halslosen im blauen Blazer. Auf dem Jackenaufschlag prangte ein kleines Logo und auf dem Oberarm ein Aufnäher. Er warf sich in die Brust. Hotel-Wachpersonal und stolz darauf.
    »Nein, vielen Dank«, sagte ich.
    Er runzelte die Stirn. »Sind Sie Gast unseres Hauses?«
    »Ja.«

    »Welche Zimmernummer haben Sie?«
    »Ich habe keine Zimmernummer.«
    »Aber Sie haben doch eben …«
    Ich klopfte energisch an die Tür. Der Kurzgeschorene eilte auf mich zu. Vorübergehend dachte ich, er wolle mich mit einem Satz überwältigen, um die Tür zu schützen, aber dann bremste er in letzter Sekunde ab.
    »Kommen Sie bitte mit«, sagte er.
    Ich beachtete ihn nicht und klopfte noch einmal. Noch immer rührte sich nichts. Der Kurzgeschorene legte mir die Hand auf den Arm. Ich schüttelte ihn ab, klopfte wieder und schrie: »Ich weiß, dass du nicht Sheila bist.« Das gab dem Kurzgeschorenen zu denken. Die Falten auf seiner Stirn wurden tiefer. Wir hielten beide inne und starrten auf die Tür. Niemand öffnete. Der Kurzgeschorene griff wieder nach meinem Arm, diesmal etwas sanfter. Ich wehrte mich nicht. Er brachte mich nach unten und führte mich durch die Lobby nach draußen.
    Ich stand auf dem Gehweg. Ich drehte mich um. Der Kurzgeschorene warf sich wieder in die Brust und verschränkte die Arme.
    Und was jetz?
    Noch eine Grundregel in New York: Nicht auf dem Gehsteig stehen bleiben. Alles muss im Fluss bleiben. Die Leute laufen vorbei und rechnen nicht damit, dass ihnen etwas im Weg steht. Wenn doch, weichen sie vielleicht aus, aber sie bleiben niemals stehen.
    Ich sah mich nach einem Zufluchtsort um. Es ging darum, so nah wie möglich bei diesem Gebäude zu bleiben – auf dem Seitenstreifen des Gehsteigs, wenn man so will. Ich schmiegte mich an eine Fensterscheibe, zog das Handy heraus, rief das Hotel an und bat darum, mit Donna White verbunden zu werden. Nach einem kurzen: »Mit Vergnügen« wurde ich durchgestellt.
    Es meldete sich niemand.
    Diesmal hinterließ ich eine einfache Nachricht. Ich gab ihr meine Handynummer und versuchte, nicht allzu flehentlich zu klingen, als ich sie darum bat, mich zurückzurufen.
    Ich steckte das Telefon wieder in die Tasche und fragte mich noch einmal: Was jetzt?
    Meine Sheila war in diesem Gebäude. Mir wurde ganz schwummrig bei dem Gedanken. Zu viel Sehnsucht. Zu viele Möglichkeiten und offene Fragen. Ich zwang mich, sie zu verdrängen.
    Also gut, was bedeutete das im Einzelnen? Erst mal: Gab es noch einen anderen Ausgang? Eine Kellertür oder einen Hinterausgang? Hatte sie mich durch ihre Sonnenbrille erkannt? Hatte sie es deshalb so eilig gehabt, in den Aufzug zu kommen? Hatte ich mich in der Zimmernummer getäuscht, als ich ihr gefolgt war? Schon möglich. Ich wusste, dass sie im neunten Stock wohnte. Das war ein Anfang. Oder nicht? Wenn sie mich gesehen hatte, könnte sie auch in einem falschen Stockwerk ausgestiegen sein? Um mich abzuschütteln?
    Sollte ich hier stehen bleiben?
    Ich wusste nicht weiter. Nach Hause konnte ich jedenfalls nicht, so viel war klar. Ich atmete tief durch. Ich sah die Fußgänger vorbeiströmen, es waren so viele, eine einzige verschwommene Menge, Einzelwesen, die zu einer großen Masse verschmolzen. Und dann erblickte ich sie in der Masse.
    Mein Herz blieb stehen.
    Sie stand einfach da und starrte mich an. Ich war zu überwältigt, um mich zu bewegen. In mir gab etwas nach. Ich hob die Hand zum Mund, um einen Schrei zu unterdrücken. Sie kam auf mich zu. Sie hatte Tränen in den Augen. Ich schüttelte den Kopf. Sie blieb nicht stehen. Als sie bei mir war, zog sie mich an sich.

    »Ist ja gut«, flüsterte sie.
    Ich schloss die Augen. Lange Zeit hielten wir einander nur fest. Wir sagten nichts. Wir rührten uns nicht. Wir klinkten uns einfach aus.

52
    »In Wirklichkeit heiße ich Nora

Weitere Kostenlose Bücher