Kein Lebenszeichen
Bewegung. Sie bogen nach links ab und glitten durch das Tor des Wellington Cemetery. Die Reifen knirschten auf dem lockeren Kies. McGuane wies den Fahrer an, zu halten. Dann stieg er aus und trat ans Fahrerfenster.
»Ich ruf an, wenn ich Sie brauche.«
Der Fahrer nickte und fuhr davon.
McGuane war allein.
Er klappte den Kragen hoch. Sein Blick schweifte über den Friedhof. Keine Bewegung. Er fragte sich, wo Tanner und sein Mann sich versteckt hatten. Wahrscheinlich näher am Treffpunkt. Auf einem Baum, oder vielleicht hinter ein paar Sträuchern. Wenn sie es richtig anstellten, würde McGuane sie überhaupt nicht zu sehen bekommen.
Der Himmel war blau. Wind peitschte ihm ins Gesicht wie die Sense des Schnitters. Er zog die Schultern hoch. Der Lärm von der Route 22 schwappte über die Schallschutzwände und besang die Toten. Der Geruch einer Bäckerei wehte durch die Luft, und einen Moment musste McGuane an Einäscherungen denken.
Niemand zu sehen.
McGuane fand den Pfad und folgte ihm Richtung Osten. Als er an den Grabsteinen und -platten vorbeiging, las er unwillkürlich Geburts- und Sterbedaten. Er überschlug das Alter und fragte sich, welchem Schicksal die jung Verstorbenen zum Opfer gefallen waren. Als er einen Namen wiedererkannte, blieb er kurz stehen. Daniel Skinner. Mit dreizehn gestorben. Auf dem Grabstein war ein lächelnder Engel eingraviert. McGuane grinste, als er das Bild ansah. Skinner, ein übler Rowdy, hatte wiederholt einen Viertklässler gequält. An jenem Tag jedoch –
laut Grabstein dem 11. Mai – hatte dieser ziemlich einmalige Viertklässler ein Küchenmesser mitgebracht, um sich zu schützen. Der erste und einzige Stich hatte Skinner ins Herz getroffen.
Bye, bye, Engel.
McGuane versuchte, den Gedanken abzuschütteln.
Hatte alles damit angefangen?
Er ging weiter. Dann bog er nach links ab und verlangsamte seinen Schritt. Es war nicht mehr weit. Er suchte die Umgebung ab.
Noch immer rührte sich nichts. Hier hinten war es ruhiger – friedlich und grün. Die Bewohner schien das allerdings nicht zu interessieren. Er zögerte, wandte sich wieder nach links und schritt die Reihe entlang, bis er ans richtige Grab kam.
McGuane blieb stehen. Er las den Namen und das Datum. Seine Gedanken wanderten in die Vergangenheit. Er fragte sich, was er empfand, und merkte, dass die Antwort lautete: nicht viel. Er sah sich nicht weiter um. Der Ghost musste hier irgendwo sein. Er spürte seine Nähe.
»Du hättest Blumen mitbringen sollen, Philip.«
Er schauderte am ganzen Körper, als er die leise, samtige Stimme mit dem Anflug eines Lispelns hörte. Langsam drehte McGuane sich um.
John Asselta kam mit Blumen in der Hand auf ihn zu. McGuane trat zur Seite. Ihre Blicke trafen sich und McGuane spürte, wie sich eine stählerne Klaue in seine Brust bohrte.
»Ist lange her«, sagte der Ghost.
Asselta, der Mann, den McGuane als den Ghost kannte, trat an den Grabstein. McGuane blieb absolut reglos stehen. Die Temperatur schien um zwanzig Grad zu fallen, als der Ghost an ihm vorbeiging.
McGuane stockte der Atem.
Der Ghost kniete sich hin und legte die Blumen behutsam aufs Grab. Mit geschlossenen Augen verharrte er einen Moment auf den Knien. Dann erhob er sich wieder, streckte seine schlanken Klavierspielerfinger aus und streichelte den Grabstein mit übergroßer Vertraulichkeit.
McGuane versuchte, nicht hinzusehen.
Der Ghost hatte graue, milchig und modrig wirkende Haut. Wie Tränenspuren verliefen blaue Adern über sein Gesicht, das man beinahe als hübsch bezeichnen konnte. Seine Augen waren fast farblos, schiefergrau. Sein Kopf hatte die Form einer Glühbirne und war viel zu groß für die schmalen Schultern. Die Seiten des Schädels waren frisch rasiert, nur aus der Mitte spross ein Büschel schmutzig brauner Haare hervor und fiel wie ein Springbrunnen in alle Richtungen herab. In seinen Zügen lag etwas Zerbrechliches, wenn nicht gar Feminines – die Albtraumausgabe einer Meißner-Porzellan-Puppe.
McGuane trat noch einen Schritt zurück.
Manchmal begegnet man Menschen, deren natürliche Freundlichkeit und Güte einen fast blendet. Aber es kann auch genau das Gegenteil passieren – man begegnet jemandem, dessen reine Anwesenheit einen schon unter einer schweren Dunsthaube von Blut und Zerstörung zu erdrücken droht.
»Was willst du?«, fragte McGuane.
Der Ghost senkte den Kopf. »Kennst du die Redewendung, dass es im Schützengraben keine Atheisten gibt?«
»Ja.«
»Das
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