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Kein Lebenszeichen

Kein Lebenszeichen

Titel: Kein Lebenszeichen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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ihren Augen. Ich streckte den Arm aus und nahm ihre Hand, die auch wieder an die ihrer Schwester erinnerte. Die Vergangenheit stürzte mit solcher Macht auf mich ein, dass ich fast hintenübergekippt wäre.
    »Das ist so absurd«, sagte sie.
    Das ist wahr, dachte ich. »Für mich auch.«
    »Das muss ein Ende haben, Will. Mein Leben lang … egal, was in dieser Nacht passiert ist – es muss jetzt mal ein Ende haben. Wenn die Polizei einen Täter gefasst hat, hört man im Fernsehen manchmal von den Angehörigen, davon wird sie auch nicht wieder lebendig, und ich denke mir: Klar, aber darum geht’s doch auch nicht. Es ist vorbei. Wenn der Täter geschnappt wird, ist das ein Abschluss. Und das braucht man einfach.«
    Ich hatte absolut keine Ahnung, worauf sie hinauswollte. Ich versuchte sie so zu behandeln, als wäre sie ein Mädchen aus dem Asyl, das zu mir gekommen war, weil es Hilfe und Zuneigung brauchte. Ich saß ihr gegenüber, sah ihr in die Augen und versuchte ihr klar zu machen, dass ich für sie da war.
    »Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich deinen Bruder gehasst habe – nicht nur wegen dem, was er Julie angetan hat, sondern auch wegen dem, was er uns angetan hat, indem er einfach abgehauen ist. Ich habe gebetet, dass sie ihn finden. Ich habe geträumt, die Cops hätten ihn eingekreist, er wehrt sich
aber trotzdem und dann machen sie ihn alle. Ich weiß, dass du das nicht hören willst. Aber du musst mich verstehen.«
    »Du willst einen Schlussstrich«, sagte ich.
    »Ja«, sagte sie. »Aber …«
    »Aber was?«
    Sie sah auf und zum ersten Mal trafen sich unsere Blicke. Ich fröstelte. Ich wollte meine Hand zurückziehen, doch ich konnte mich nicht bewegen. »Ich hab ihn gesehen«, sagte sie.
    Ich dachte, ich hätte mich verhört.
    »Deinen Bruder. Ich hab ihn gesehen. Ich glaub zumindest, dass er es war.«
    Ich bekam nur ein Wort heraus. »Wann?«
    »Gestern. Auf dem Friedhof.«
    Die Kellnerin kam zu uns an den Tisch. Sie zog einen Bleistift hinterm Ohr hervor und fragte, was wir wollten. Erst sagten wir beide nichts. Die Kellnerin räusperte sich. Katy bestellte irgendeinen Salat. Die Kellnerin sah mich an. Ich bestellte ein Käseomelett. Sie fragte, welchen Käse ich wollte – amerikanischen, Schweizer, Cheddar. Ich sagte, Cheddar. Ob ich Bratkartoffeln oder Pommes frites dazu wollte? Bratkartoffeln. Weizentoast, Roggentoast oder Vollkorntoast? Roggen. Und nichts zu trinken, danke.
    Endlich ging die Kellnerin wieder.
    »Erzähl«, sagte ich.
    Katy drückte ihre Zigarette aus. »Wie gesagt, ich bin zum Friedhof gefahren. Einfach nur, um aus dem Haus zu kommen. Egal, du weißt ja, wo Julies Grab ist, stimmt’s?«
    Ich nickte.
    »Klar, ich hab dich da ja gesehen. Ein paar Tage nach der Beerdigung.«
    »Ja«, sagte ich.
    Sie beugte sich vor. »Hast du sie geliebt?«

    »Ich weiß es nicht.«
    »Aber sie hat dir das Herz gebrochen.«
    »Möglich«, sagte ich. »Vor langer Zeit.«
    Katy starrte ihre Hände an.
    »Erzähl mir, was passiert ist«, sagte ich.
    »Er hat sich ziemlich verändert. Dein Bruder, mein ich. Ich kann mich fast nicht mehr an ihn erinnern. Nur ganz vage. Und ich kenne ein paar Fotos von ihm.« Sie brach ab.
    »Soll das heißen, dass er an Julies Grab gestanden hat?«
    »Unter einer Weide.«
    »Was?«
    »Da steht eine Weide. So zwanzig, dreißig Meter vom Grab entfernt. Ich bin nicht durch den Eingang gekommen. Ich bin hinten über den Zaun geklettert. Deshalb hat er mich nicht gesehen. Ich bin also von hinten zum Grab gekommen und seh diesen Typen da stehen. Er hört mich nicht. Er war einfach in Gedanken versunken oder so. Ich hab ihm dann auf die Schulter getippt. Er ist meterhoch gesprungen, als er sich umgedreht und mich gesehen hat … na ja, du weißt ja, wie ich aussehe. Er hätte fast geschrien. Hat mich für ’nen Geist gehalten oder so.«
    »Und du hast gleich gewusst, dass es Ken war?«
    »Nein, anfangs nicht. Wie denn auch?« Sie zog eine Zigarette aus der Packung und sagte: »Aber, ja. Jetzt bin ich sicher, dass er das war.«
    »Wie kannst du dir da so sicher sein?«
    »Er hat mir gesagt, dass er’s nicht getan hat.«
    Mir schwirrte der Kopf. Meine Hände sanken herab und gruben sich ins Sitzkissen. »Was genau hat er gesagt?«
    »Zuerst nur das. Ich hab deine Schwester nicht umgebracht.«
    »Und was hast du gemacht?«
    »Ich hab gesagt, dass er ein Lügner ist. Ich hab gesagt, ich schreie.«

    »Hast du geschrien?«
    »Nein.«
    »Warum nicht?«
    Katy hatte

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