Kein Lebenszeichen
ihre neue Zigarette noch nicht angezündet. Sie nahm sie aus dem Mund und legte sie auf den Tisch. »Weil ich ihm geglaubt habe«, sagte sie. »Da war so was in seiner Stimme, ich weiß nicht. Ich habe ihn so lange gehasst. Du kannst dir nicht vorstellen, wie … Aber jetzt …?«
»Und was hast du dann gemacht?«
»Ich hab einen Schritt zurück gemacht. Ich wollte immer noch schreien. Da ist er plötzlich auf mich zugekommen. Er hat meinen Kopf in beide Hände genommen, mir in die Augen gesehen und gesagt: Ich finde den Mörder. Das verspreche ich dir. Das war alles. Er hat mich dann noch kurz angesehen. Dann hat er mich losgelassen und ist weggerannt.«
»Hast du mit irgendwem darüber …«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ich hab mit niemand gesprochen. Manchmal bin ich mir gar nicht sicher, ob das wirklich passiert ist. Oder ob ich mir das Ganze nur eingebildet habe. Geträumt oder sonst wie ausgedacht. Wie die Erinnerungen an Julie.« Sie blickte zu mir auf. »Glaubst du, dass er Julie umgebracht hat?«
»Nein«, sagte ich.
»Ich hab dich in den Nachrichten gesehen«, sagte sie. »Du hast immer gedacht, dass er tot ist. Weil am Tatort auch was von seinem Blut war.«
Ich nickte.
»Glaubst du das immer noch?«
»Nein«, sagte ich. »Das glaub ich nicht mehr.«
»Warum hast du deine Meinung geändert?«
Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. »Ich glaube«, sagte ich, »ich suche auch nach ihm.«
»Ich will dir helfen.«
Sie hatte »will« gesagt. Aber ich wusste, dass sie »muss« meinte.
»Bitte, Will. Lass mich helfen.«
Und ich sagte ja.
15
Belmont, Nebraska
Sheriff Bertha Farrow sah Hilfssheriff George Volker stirnrunzelnd über die Schulter. »Ich hasse diese Dinger«, sagte sie.
»Das ist völlig irrational«, erwiderte Volker, während seine Finger über die Tastatur tanzten. »Computer sind unsere Freunde.«
Die Falten auf ihrer Stirn wurden tiefer. »Und was macht unser Freund gerade?«
»Er scannt die Fingerabdrücke der Unbekannten.«
»Scannt?«
»Wie soll man das einem absoluten Technologiefeind erklären?« Volker blickte auf und rieb sich das Kinn. »Das ist wie ein Fotokopierer und ein Faxgerät in einem. Er kopiert den Fingerabdruck und dann schickt er ihn per E-Mail an die CJIS in West Virginia.«
Die CJIS waren die Criminal Justice Information Services. Jetzt, da jede Polizeidienststelle online war – selbst in den hinterwäldlerischsten Nestern wie dem ihren –, konnte man Fingerabdrücke übers Internet zur erkennungsdienstlichen Bearbeitung schicken. Wenn sie in der riesigen Datenbank des National Crime Information Center gelistet waren, hatte man im Handumdrehen eine eindeutige Identifikation.
»Ich dachte, die CJIS sind in Washington«, sagte Bertha.
»Nicht mehr. Senator Byrd hat sie verlegt.«
»Prima, wenn man so einen Senator hat.«
»Keine Frage.«
Bertha legte ihr Holster an und ging den Korridor hinab. Das Revier lag im selben Gebäude wie Clydes Leichenschauhaus, eine sehr bequeme Einteilung, die nur gelegentlich stechende Gerüche mit sich brachte. Die Belüftungsanlage des Leichenschauhauses war miserabel, daher waberte gelegentlich eine Wolke aus Formaldehyd- und Verwesungsgestank durch die Diensträume.
Nach ganz kurzem Zögern öffnete Bertha Farrow die Tür zum Leichenschauhaus. Hier gab es keine Stahlschubladen, glänzenden Instrumente oder komplizierte Gerätschaften, wie man sie aus dem Fernsehen kannte. Clydes Leichenschauhaus war eigentlich nur ein Notbehelf. Clyde hatte auch nur eine Teilzeitstelle, weil, wenn man ehrlich war, wirklich nicht viel Arbeit anfiel. Der eine oder andere Verkehrstote, das war’s so ziemlich. Letztes Jahr war Don Taylor so besoffen gewesen, dass er sich versehentlich eine Kugel in den Kopf gejagt hatte. Seine leidgeprüfte Frau meinte gern scherzhaft, der alte Don habe wohl in den Spiegel geschaut und sich für einen Elch gehalten. Der Bund fürs Leben. Aber das war’s dann auch wirklich. Das Leichenschauhaus – na ja, das war eine großspurige Bezeichnung für das Hausmeisterzimmer – konnte nicht mehr als zwei Leichen gleichzeitig aufnehmen. Wenn Clyde wirklich einmal mehr Platz brauchte, griff er auf Wally’s Beerdigungsinstitut zurück.
Die Leiche der Unbekannten lag auf dem Tisch. Clyde beugte sich über sie. Er trug blaue Operationskluft und helle Gummihandschuhe. Er weinte. Aus den Lautsprechern tönte eine Opernarie – irgendein Gejammer über etwas furchtbar
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