Kein Lebenszeichen
Hand ihres Mannes. Die Geste wirkte so intim, dass ich mich fast abgewandt hätte. »Sie war so schön, Abe.«
»Und so freundlich«, ergänzte er. Abe seufzte und sah mich an. Die Tür wurde geöffnet und wieder ertönte der Gong. Ein ungepflegter Schwarzer kam herein und sagte: »Tyrone schickt mich.«
Sadie ging zum anderen Ende des Tresens. »Kommen Sie, wir können das hier besprechen«, sagte sie zu ihm.
Abe starrte mich weiter an. Ich warf Squares einen fragenden Blick zu. Ich begriff überhaupt nichts.
Squares nahm seine Sonnenbrille ab. »Bitte, Abe«, sagte er. »Es ist wichtig.«
Abe hob die Hand. »Okay, okay, aber dann machen Sie bitte nicht mehr so ein Gesicht.« Er winkte, dass wir ihm folgen sollten. »Kommen Sie mit.«
Wir gingen in den hinteren Teil der Apotheke. Er öffnete uns die Klappe im Tresen, und wir kamen an Pillen, Flaschen, Tüten mit vorbereiteten Rezepturen, Stößeln und Mörsern vorbei. Abe öffnete eine Tür. Sie führte in den Keller. Abe schaltete das Licht an.
»Hier«, verkündete er, »machen wir alles.«
Ich sah fast nichts. Nur einen Computer, einen Drucker und eine Digitalkamera. Das war auch schon alles. Ich sah erst Abe, dann Squares an.
»Kann mir jemand erklären, worum es geht?«
»Das ist ein ganz einfaches Geschäft«, sagte Abe. »Wir bewahren keine Aufzeichnungen auf. Wenn die Polizei diesen Computer mitnehmen will, kann sie das tun. Sie wird nichts finden. Sämtliche Daten sind hier oben gespeichert.« Er tippte mit dem Finger an seine Stirn. »Tja, und da geht jeden Tag eine ganze Menge verloren, stimmt’s, Squares?«
Squares lächelte ihn an.
Abe sah meine Verwirrung. »Sie verstehen immer noch nicht?«
»Falsche Papiere«, sagte Abe.
»Oh.«
»Ich meine nicht die, mit denen Minderjährige sich ihren Fusel kaufen gehen.«
»Ach so, ja.«
Er senkte die Stimme: »Wissen Sie irgendwas darüber?«
»Eigentlich nicht.«
»Ich meine Papiere für Leute, die untertauchen müssen. Weil sie auf der Flucht sind. Um noch mal von vorn anzufangen. Wenn Sie in Schwierigkeiten stecken, kommen Sie zu mir, und zack, lasse ich Sie verschwinden. Wie ein Zauberer, ja? Wenn Sie wegmüssen, wirklich weg, gehen Sie nicht ins Reisebüro. Dann kommen Sie zu mir.«
»Verstehe«, sagte ich. »Und besteht eine große Nachfrage nach …«, ich wusste nicht recht, wie ich es ausdrücken sollte, »… Ihrem Service?«
»Oh, Sie wären überrascht. Meistens ist es allerdings nicht sehr aufregend. Oft geht es einfach darum, abzuhauen, wenn man auf Bewährung oder gegen Kaution draußen ist. Oder wenn die Polizei hinter einem her ist. Wir helfen auch vielen illegalen Einwanderern. Sie wollen im Land bleiben, also machen wir sie zu amerikanischen Staatsbürgern.« Er lächelte. »Und manchmal sind auch nette Menschen dabei.«
»Wie Sheila«, sagte ich.
»Genau. Wollen Sie wissen, wie es funktioniert?«
Bevor ich antworten konnte, fuhr Abe schon fort. »Es ist nicht wie im Fernsehen«, sagte er. »Da ist das immer so kompliziert, finden Sie nicht? Die suchen sich einen Jugendlichen, der gestorben ist, und lassen sich dann die Geburtsurkunde schicken oder so. Die erfinden lauter komplizierte Fälschungen.«
»Und so geht das nicht?«
»Nein, so geht das nicht.« Er setzte sich an den Computer und fing an zu tippen. »Erstens würde das viel zu lange dauern. Zweitens, mit dem Internet und dem World Wide Web und diesen ganzen Medien sind Tote sehr schnell tot. Sie leben nicht mehr weiter. Wenn Sie sterben, stirbt auch Ihre Sozialversicherungsnummer. Sonst könnte ich ja einfach die Sozialversicherungsnummern
von alten Leuten nehmen, die verstorben sind, ja? Oder auch von Leuten, die jung gestorben sind? Verstehen Sie?«
»Ich denke schon«, sagte ich. »Und wie erschaffen Sie dann eine falsche Identität?«
»Oh, ich erschaffe keine falsche Identität«, sagte Abe mit einem breiten Lächeln. »Ich nehme eine echte.«
»Das versteh ich nicht.«
Abe sah Squares stirnrunzelnd an. »Haben Sie nicht gesagt, er hat als Streetworker gearbeitet?«
»Das ist lange her«, sagte Squares.
»Ja, okay. Also gut.« Abe Goldberg wandte sich wieder an mich. »Sie haben doch oben den Mann gesehen. Den, der nach Ihnen reingekommen ist.«
»Ja.«
»Er sieht aus wie ein Arbeitsloser, oder? Wahrscheinlich ist er obdachlos.«
»Kann ich nicht sagen.«
»Kommen Sie mir nicht mit politischer Korrektheit. Er hat ausgesehen wie ein Penner, oder?«
»Schon möglich.«
»Aber er ist ein
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