Kein Lebenszeichen
nicht nur schön, da war noch mehr. Durch ihren Tod fühlen wir uns … ärmer. Sie hat solche Angst gehabt, als sie hier hereinkam. Und vielleicht hat die Identität, die wir ihr gegeben haben, nicht standgehalten. Vielleicht ist sie deshalb tot.«
»Deshalb«, sagte Abe, »wollen wir Ihnen helfen.« Er schrieb etwas auf einen Zettel und gab ihn mir. »Wir haben ihr den Namen Donna White gegeben. Das ist die Sozialversicherungsnummer. Ich weiß nicht, ob Ihnen das weiterhilft.«
»Und die echte Donna White?«
»Ist ein obdachloser Junkie.«
Ich starrte auf den Zettel.
Sadie kam zu mir und tätschelte meine Wange. »Sie sehen aus wie ein guter Mensch.«
Ich sah sie an.
»Finden Sie das kleine Mädchen«, sagte sie.
Ich nickte. Dann nickte ich noch einmal. Dann versprach ich es ihr.
28
Katy Miller zitterte immer noch, als sie zu Hause ankam.
Das kann nicht sein, dachte sie. Das muss ein Irrtum sein. Ich habe den Namen falsch verstanden.
»Katy?«, rief ihre Mutter.
»Ja.«
»Ich bin in der Küche.«
»Ich komm gleich, Mom.«
Katy ging zur Kellertür. Sie legte die Hand auf den Türknauf, hielt dann aber inne.
Der Keller. Sie ging nicht gerne da runter.
Man sollte meinen, nach all den Jahren hätte sie sich an den Anblick der fadenscheinigen Couch, des fleckigen Teppichbodens und des Fernsehers, der so alt war, dass man damit noch nicht einmal Kabelfernsehen empfangen konnte, gewöhnt. Doch das stimmte nicht. Ihre Sinne spielten immer wieder verrückt, fast so, als läge die Leiche ihrer Schwester noch im Keller, aufgedunsen und verwest, und verpestete die Luft so stark, dass man kaum schlucken konnte.
Ihre Eltern hatten Verständnis dafür. Katy brauchte sich nicht um die Wäsche zu kümmern. Ihr Vater bat sie nie, den Werkzeugkasten oder eine neue Glühbirne aus dem Vorratskeller zu holen. Katys Eltern versuchten, ihrer Tochter alles abzunehmen, wofür man in die Tiefe des Gebäudes vordringen musste.
Aber diesmal ging das nicht. Diesmal war sie ganz auf sich alleine gestellt.
Oben auf der Treppe schaltete sie das Licht an. Eine nackte Glühbirne leuchtete auf – der Glasschirm war bei dem Mord zerbrochen. Sie schlich die Treppe hinab, achtete nicht darauf,
wo sie hintrat, sondern behielt die ganze Zeit den Teppich, die Couch und den Fernseher im Auge.
Warum wohnten sie noch hier?
Sie fand es absurd. Nachdem JonBenéts ermordet worden war, waren die Ramseys ans andere Ende des Landes gezogen. Allerdings hatten da auch alle gedacht, dass sie sie umgebracht hatten. Die Ramseys waren wahrscheinlich ebenso sehr vor den Blicken ihrer Nachbarn geflohen wie vor der Erinnerung an den Tod ihrer Tochter. Das war hier natürlich anders.
Trotzdem hatte dieser Ort etwas Seltsames. Ihre Eltern waren hier geblieben. Die Kleins auch. Sie wollten beide nicht weichen.
Was bedeutete das?
Julies Schrankkoffer stand in der Ecke. Ihr Vater hatte eine Holzkiste darunter gestellt, falls es mal eine Überschwemmung geben sollte. Katy erinnerte sich daran, wie ihre Schwester einmal fürs College gepackt hatte. Sie war damals in den Schrankkoffer gekrochen und hatte sich erst vorgestellt, er wäre eine Art Burg, und dann, dass Julie sie einpacken und sie mit ihr aufs College gehen würde.
Auf dem Koffer lagen ein paar Kartons. Katy nahm sie herunter und stapelte sie in der Ecke. Sie untersuchte das Schloss des Koffers. Ein Schlüssel war nicht zu entdecken, aber wahrscheinlich reichte auch eine flache Klinge. Im Schrank mit dem alten Besteck fand sie ein Buttermesser. Sie steckte es in die Öffnung und drehte es herum. Das Schloss schnappte auf. Sie öffnete die beiden Schnallen und klappte langsam – wie Van Helsing vor Draculas Sarg – den Deckel auf.
»Was machst du denn da?«
Die Stimme ihrer Mutter erschreckte sie. Sie machte einen Satz rückwärts.
Lucille Miller kam auf sie zu. »Ist das nicht Julies Koffer?«
»Herrje, Mom, du hast mich zu Tode erschreckt.«
Ihre Mutter trat zu ihr. »Was machst du mit Julies Koffer?«
»Ich … ich guck nur.«
»Wieso?«
Katy richtete sich auf. »Sie war meine Schwester.«
»Ich weiß, Schatz.«
»Hab ich nicht auch das Recht, sie zu vermissen?«
Ihre Mutter sah sie lange an. »Und deshalb bist du hier unten?«
Katy nickte.
»Ist sonst alles in Ordnung?«, fragte ihre Mutter.
»Alles okay.«
»Du hast dich doch sonst nie so viel mit der Vergangenheit beschäftigt, Katy.«
»Ihr habt mir auch keine Chance dazu gegeben«, sagte sie.
Ihre Mutter dachte
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