Kein Lebenszeichen
und gelassen an. »Ihr Bruder kommt nach, na ja, sagen wir nach zwei Jahren das erste Mal nach Hause. Und was macht er? Läuft die Straße runter und hüpft mit der Frau, die Sie lieben, ins Bett.«
»Wir hatten uns getrennt«, sagte ich und hörte selbst die Weinerlichkeit, die in meiner Stimme lag.
Er grinste. »Klar, und mit so einer Trennung ist so eine Geschichte dann auch ein für alle Mal erledigt, was? Damit ist die Jagdsaison für jedermann eröffnet – besonders für den heiß geliebten Bruder.« Pistillos Kopf war nur wenige Zentimeter von meinem entfernt. »Sie behaupten, Sie hätten in der Mordnacht dort jemanden gesehen. Einen geheimnisvollen Fremden, der um das Haus der Millers herumgeschlichen sei.«
»Das stimmt.«
»Wieso haben Sie den gesehen?«
»Was meinen Sie damit?«, fragte ich. Doch ich wusste genau, worauf er hinauswollte.
»Sie haben erzählt, dass Sie am Haus der Millers jemanden gesehen haben, stimmt’s?«
»Ja.«
Pistillo breitete lächelnd die Arme aus. »Aber wissen Sie, Sie haben uns nie erzählt, was Sie in dieser Nacht da gemacht haben,
Will.« Er sagte es beiläufig, in einer Art Singsang. »Sie, Will. Vor dem Haus der Millers. Allein. Spätnachts. Als Ihr Bruder allein mit Ihrer Ex im Haus war und …«
Katy drehte sich um und sah mich an.
»Ich bin spazieren gegangen«, sagte ich hastig.
Pistillo ging jetzt im Zimmer auf und ab. »Mhm, klar. Okay, mal sehen, ob ich das jetzt richtig verstanden habe. Ihr Bruder schläft mit der Frau, für die Sie noch etwas empfinden. Zufällig kommen Sie auf Ihrem Spaziergang an ihrem Hause vorbei. Kurz darauf ist sie tot. Am Tatort findet sich Blut von Ihrem Bruder. Und Sie, Will, sind sich hundertprozentig sicher, dass Ihr Bruder sie nicht ermordet hat.«
Er blieb stehen und sah mich grinsend an. »Wenn Sie jetzt der Ermittler wären, was würden Sie vermuten?«
Ein riesiger Stein legte sich auf meine Brust. Ich konnte kaum sprechen.
»Wenn Sie meinen, dass …«
»Ich meine, Sie sollten nach Hause gehen«, sagte Pistillo. »Das ist alles. Sie gehen jetzt beide nach Hause und halten sich verdammt noch mal aus dieser Sache raus.«
35
Pistillo bot Katy an, sie nach Hause fahren zu lassen. Sie lehnte ab und sagte, sie wolle bei mir bleiben. Das gefiel ihm zwar nicht, aber er konnte nichts dagegen tun.
Schweigend fuhren wir zurück zu meiner Wohnung. Dort zeigte ich ihr meine beeindruckende Speisekarten-Sammlung von Take-out-Restaurants. Sie entschied sich für Chinesisch. Ich ging runter und holte das Essen. Wir verteilten die weißen Pappschachteln auf dem Tisch. Ich setzte mich auf meinen üblichen
Platz. Katy saß auf Sheilas. Ich dachte an das letzte chinesische Essen mit Sheila – sie war gerade mit zurückgebundenen Haaren aus der Dusche gekommen und hatte unter ihrem Frottee-Bademantel noch süß geduftet. Die Sommersprossen auf ihrer Brust …
Seltsam, an was man sich so erinnert.
Die Trauer stürzte in großen, vernichtenden Wellen auf mich ein. Sobald ich zur Ruhe kam, holte sie mich ein. Trauer zermürbt einen. Wenn man nicht aufpasst, zehrt sie einen so sehr aus, dass einen nichts mehr kümmert.
Ich schaufelte etwas von dem gebratenen Reis auf meinen Teller und tat einen Klacks Hummersoße drüber. »Willst du immer noch hier schlafen?«
Katy nickte.
»Dann nimm doch das Schlafzimmer«, sagte ich.
»Die Couch wäre mir lieber.«
»Sicher?«
»Absolut.«
Wir taten, als würden wir essen.
»Ich hab Julie nicht umgebracht«, sagte ich.
»Ich weiß.«
Wir taten, als würden wir weiteressen.
Schließlich fragte sie: »Was wolltest du da in dieser Nacht?«
Ich versuchte zu lächeln. »Du glaubst mir nicht, dass ich nur spazieren gegangen bin?«
»Nein.«
Ich legte die Essstäbchen so vorsichtig zur Seite, als könnten sie zersplittern. Wie sollte ich das hier erklären, in meiner Wohnung, während die Schwester der Frau, die ich einmal geliebt habe, auf dem Stuhl saß, auf dem vor kurzem die Frau, die ich hatte heiraten wollen, gesessen hatte? Beide waren ermordet worden. Beide hatte ich geliebt. Ich sah sie an und sagte: »Ich
glaube, ich war wohl doch noch nicht ganz über die Trennung von Julie weg.«
»Du wolltest sie sehen.«
»Ja.«
»Und?«
»Ich hab geklingelt«, sagte ich. »Aber es hat keiner aufgemacht.«
Katy dachte darüber nach. Sie sah auf ihren Teller und versuchte, ungezwungen zu wirken. »Komisches Timing.«
Ich nahm die Essstäbchen wieder in die Hand.
»Will?«
Ich sah
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