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Kein Lebenszeichen

Kein Lebenszeichen

Titel: Kein Lebenszeichen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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weiter auf den Tisch hinab.
    »Hast du gewusst, dass dein Bruder bei ihr war?«
    Ich schob den Reis auf dem Teller herum. Sie hob den Kopf und musterte mich. Ich hörte, wie mein Nachbar seine Wohnungstür öffnete und wieder schloss. Eine Hupe ertönte. Auf der Straße rief jemand etwas. Vielleicht was Russisches.
    »Du hast es gewusst«, sagte Katy. »Du hast gewusst, dass Ken bei uns im Haus war. Bei Julie.«
    »Ich habe deine Schwester nicht umgebracht.«
    »Was ist passiert, Will?«
    Ich verschränkte die Arme vor der Brust, lehnte mich zurück, schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken. Ich wollte nicht in der Vergangenheit herumstochern, doch ich hatte keine Wahl. Katy wollte wissen, was passiert war. Es stand ihr zu.
    »Das war ein ganz merkwürdiges Wochenende«, begann ich. »Wir hatten uns vor über einem Jahr getrennt. Seitdem hatten wir uns nicht mehr gesehen. Ich war gelegentlich da und hatte versucht, ihr in den Semesterferien mal über den Weg zu laufen, aber sie hat sich nicht blicken lassen.«
    »Sie war lange nicht zu Hause gewesen«, sagte Katy.
    Ich nickte. »Mit Ken war es das Gleiche. Darum war es auch
so merkwürdig. Plötzlich waren wir alle drei gleichzeitig wieder in Livingston. Ich kann gar nicht sagen, wann das davor zum letzten Mal so war. Und Ken hat sich auch ziemlich merkwürdig benommen. Er hat dauernd aus dem Fenster geguckt. Er ist so gut wie nie aus dem Haus gegangen. Er hatte irgendwas vor. Keine Ahnung, was. Jedenfalls hat er mich gefragt, ob ich noch mit Julie zusammen bin. Ich hab gesagt, nein. Ich hab ihm erzählt, dass es vorbei ist.«
    »Du hast ihn belogen.«
    »Das war …« Ich überlegte, wie ich es ihr erklären könnte. »Mein Bruder war wie ein Gott für mich. Er war stark, mutig und …« Ich schüttelte den Kopf. So stimmte das nicht. Ich fing von vorne an. »Als ich sechzehn war, sind wir mit unseren Eltern nach Spanien gefahren. An die Costa del Sol. Das war eine einzige riesige Party. So was Ähnliches für die Europäer wie die Frühjahrs-Semesterferien in Florida für uns. Ken und ich haben immer in dieser Disco bei unserem Hotel rumgehangen. Am vierten Abend hat ein Kerl auf der Tanzfläche mich angerempelt. Ich hab ihn nur kurz angesehen. Er hat mich ausgelacht. Ich hab weitergetanzt. Dann hat mich ein anderer angerempelt. Ich hab versucht, den auch zu ignorieren. Dann kam der erste wieder. Er ist direkt auf mich zugekommen und hat mich umgestoßen.« Ich brach ab und versuchte die Erinnerung durch Blinzeln loszuwerden, als wäre sie Sand in meinen Augen. Ich sah sie an. »Weißt du, was ich getan habe?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Ich habe Ken zu Hilfe gerufen. Ich bin nicht wieder aufgestanden. Ich hab mich nicht gewehrt. Ich hab meinen großen Bruder gerufen und bin weggekrabbelt.«
    »Du hattest Angst.«
    »Wie immer«, sagte ich.
    »Das ist doch ganz normal.«

    Ich glaubte ihr nicht.
    »Und? Ist er gekommen?«, fragte sie.
    »Natürlich.«
    »Und dann?«
    »Es gab eine Schlägerei. Die anderen haben alle zusammengehört. Irgendwelche Skandinavier. Ken wurde nach Strich und Faden verprügelt.«
    »Und du?«
    »Ich habe nicht einmal versucht, irgendjemand eine zu verpassen. Ich hab aus der Distanz versucht, mit ihnen zu reden, sie zu überzeugen, dass sie aufhören sollten.« Wieder wurden meine Wangen schamrot. Mein Bruder, der häufig genug in Schlägereien verwickelt gewesen war, hatte Recht. Wenn man verprügelt wird, schmerzt das eine Weile. Wenn man sich drückt, wird man die Scham über die eigene Feigheit sein Leben lang nicht wieder los. »Dabei hat Ken sich den Arm gebrochen. Den rechten. Er war ein sagenhafter Tennisspieler. Stand auf der nationalen Rangliste. Stanford hat sich für ihn interessiert. Sein Aufschlag ist hinterher nie wieder so gut geworden. Am Ende ist er überhaupt nicht aufs College gegangen.«
    »Das ist doch nicht deine Schuld.«
    Da lag sie völlig schief. »Es geht darum, dass Ken mich immer verteidigt hat. Natürlich hatten wir auch die üblichen Brüderkämpfe. Er hat mich erbarmungslos geärgert. Aber er hätte sich vor einen fahrenden Zug geworfen, um mich zu schützen. Und ich hab nie den Mut gehabt, mich zu revanchieren.«
    Katy strich sich mit der Hand übers Kinn.
    »Was ist?«, fragte ich.
    »Seltsam«, sagte sie.
    »Was?«
    »Dass dein Bruder so unsensibel gewesen sein soll, mit Julie zu schlafen.«

    »Das war nicht seine Schuld. Er hat mich gefragt, ob ich über die Trennung hinweg wäre. Ich

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