Kein Lord wie jeder andere (German Edition)
haben zu können. Mrs Palmer war die Einzige, die sowohl Hart als auch Ian entlasten könnte, und nun schützte Hart sie auch noch.
Hart log. Mrs Palmer war noch irgendwo hier im Haus. Und Beth wartete draußen …
Beth wand sich und versuchte gleichzeitig, Mrs Palmer von sich zu stoßen. Das Messer verfehlte knapp ihr Mieder und bohrte sich über dem Hüftknochen tief in ihre Seite.
Beth ächzte. Der Schmerz nahm ihr die Luft. Sie grub ihre Finger in Mrs Palmers Handgelenke und hielt sich fest.
»Lass mich los, Schlampe, sonst schlitz ich dich auf.«
Beth wollte schreien, doch ihre Beine gaben nach, und auf einmal fühlte sie sich ganz schwach.
»Stirb mir nur nicht, dummes Ding!« Heiß spürte sie Mrs Palmers Atem an ihrem Ohr. Dann wurde sie durch die Pforte gezerrt, und von dem fauligen Gestank in dem engen Verschlag wurde ihr schrecklich übel.
Vor Angst schlug ihr das Herz bis zum Hals. Mrs Palmer war zweifelsfrei gefährlich, aber auch Beths einzige Chance, Ian zu entlasten.
»Sie geben eine hübsche Geisel ab«, sagte Mrs Palmer scharf. »Hart hat mir verraten, wie sehr Ian seine Frau verehrt. Um Sie zurückzubekommen, wird er sicher alles tun, zum Beispiel mir helfen, England zu verlassen.«
Mrs Palmer war ihr körperlich überlegen. Sie schleppte Beth durch den schmalen Durchgang bis zur Straße. Es musste die Chancery Lane sein, wenn Beths Orientierungssinn sie nicht trog. Doch ganz sicher war sie nicht, denn vor ihren Augen verschwamm alles. Und ihre Hände waren kalt, so kalt.
Sie hörte Mrs Palmer lachen, laut und wie betrunken. Dabei war die Frau doch gar nicht betrunken gewesen, oder doch? In Beths Kopf drehte sich alles; eine Droschke hielt, und Mrs Palmer stieß sie hinein. »Bethnal Green«, rief sie dem Kutscher lallend zu. »Keine Angst, ich kann zahlen. Beeilen Sie sich, ich muss meine Schwester nach Hause schaffen.«
Beth sank in die Polster, und Mrs Palmer zog die Reisedecke über sie beide. Die Decke roch nach Dreck, Schweiß und feuchtem Wollstoff. Beth hustete und stöhnte auf vor Schmerz.
»Sie werden hinterherkommen«, krächzte Beth. »Sobald sie mein Verschwinden entdecken, kommen sie mich suchen.«
»Das weiß ich doch«, fuhr Mrs Palmer sie an. »Ich werde mich bestens um Sie kümmern.«
Das hätte auch der Wolf zum Schaf sagen können, das er zu verschlingen beabsichtigte. Mrs Palmer presste die Lippen fest aufeinander und sagte kein Wort mehr. Unterwegs driftete Beth immer wieder in die Bewusstlosigkeit ab. Dunkel fragte sie sich, wie lange sie wohl mit der Stichwunde am Leben bleiben würde.
»Ich brauche einen Arzt«, stöhnte sie.
»Ich sagte doch, ich kümmere mich.«
Beth presste die Hand gegen die Wunde und schloss die Augen. Ihr war schlecht, und sie fror, die Beine fühlten sich taub an, und Schweiß trat ihr auf die Stirn.
Schließlich hielt die Droschke. Der Kutscher wandte sich mit polternder Stimme an Mrs Palmer, dann war das Klimpern von Geldstücken zu hören. Beth versuchte, sich an der Seitenwand der Droschke festzuhalten, doch Mrs Palmer schlang den Arm um Beths Taille und zerrte sie auf die Straße.
»Das ist nicht schön, zwei hübsche Damen so betrunken zu sehen!«, rief der Kutscher ihnen nach.
Mrs Palmer ließ ein vulgäres Lachen erklingen, verstummte jedoch abrupt, als sie Beth um die nächste Ecke gezogen hatte. Hier blieben sie stehen. Von den Fenstern drang wenig Licht in die Gassen des Armenviertels. Die Steinhäuser waren grau und schmutzig vom Kohlenrauch. Im Rinnstein sammelten sich die Abfälle, verdreckte Gestalten torkelten betrunken herum oder eilten ängstlich zum nächsten Unterschlupf, der ihnen Schutz bieten würde.
Mrs Palmer trieb sie bald durch die eine, bald durch die andere verschlungene Gasse. Beth begriff, dass sie ihr die Orientierung unmöglich machen wollte, doch in Bethnal Green kannte Beth sich blind aus. Hier war sie aufgewachsen, hier hatte sie ums Überleben gekämpft und war sogar hin und wieder glücklich gewesen.
»Wo sind wir?«, keuchte sie in gespielter Verwirrung. »Wohin gehen wir?«
»Zu meiner Schwester. Und hören Sie auf, Fragen zu stellen.«
»Hart weiß von Ihrer Schwester, weiß, wo sie wohnt, nicht wahr? Und kümmern werden Sie sich auch nicht um mich. Sie werden mich umbringen, sobald wir bei Ihrer Schwester sind. Womöglich wird die Ihnen noch dabei helfen.«
Mit eisernem Griff hielt Mrs Palmer sie fest. »Ich lasse Sie erst laufen, wenn ich in Sicherheit bin. Dann schicke ich ein
Weitere Kostenlose Bücher