Kein Lord wie jeder andere (German Edition)
wiederzusehen. Ian.
Ian drängte sich an Cameron und Fellows vorbei aus dem Zimmer. Hinter sich hörte er Hart rufen: »Haltet ihn auf.«
Cameron setzte ihm nach, doch Ian war schneller. Noch bevor ihn der Bruder einholen konnte, war er schon die Treppen hinunter zu Harts Kutsche gerannt. Er riss die Kutschtür auf und fand Katie schlafend in den Plüschpolstern. Sie war allein.
»Wo ist Beth?«
Verwirrt blinzelte Katie ihn an. »Ist Madame nicht bei Ihnen?«
In seinen Schläfen hämmerte das Blut. Er schlug die Tür zu und ging mit großen Schritten auf den Kutscher zu, der nahebei an der Mauer lehnte und einen Priem Tabak kaute.
»Wo ist sie?«, gellte Ians Stimme, woraufhin die Pferde scheuten.
»Ihre Lady? Ist ins Haus. Dachte … «
Den Rest der gestammelten Erklärung wartete Ian gar nicht erst ab. Er rannte zurück, auf halbem Weg kam ihm Cameron entgegen. Sein Bruder blieb stehen und rief ihm hinterher: »Ian, was zum Teufel … ?«
Ian stürzte ins Haus, rief nach Beth. Hart stand mit Fellows oben auf dem Treppenabsatz und sah zu ihm hinunter. Ein Stockwerk darüber steckten zwei Mädchen den Kopf durch die Tür.
»Wo ist sie?«, brüllte Ian zu ihnen hinauf.
Hart und Fellows starrten ihn nur ungläubig an, doch eines der Mädchen antwortete: »Hier oben ist sie nicht, Schätzchen.«
»Habt ihr sie gesehen?«
»Ich habe gesehen, wie Mutter Palmer im Galopp die Hintertreppe runter ist«, warf das zweite Mädchen ein. »Die wollte wohl dem Inspektor nicht über den Weg laufen.«
Furcht und Wut ließen nur noch einen Gedanken zu. Beth. Er musste sie finden.
»Ian!«, erklang Camerons Stimme von der Hintertreppe, die zur Küche führte.
Ian raste die Stufen hinab, durch die Küche und zur Hintertür hinaus. Cameron stand in dem winzigen Hof mit einer Laterne in der Hand, die er sich aus der Küche geschnappt hatte.
Irgendetwas hatte Camerons Aufmerksamkeit erregt: ein feuchter rotbrauner Fleck auf den verrußten Backsteinen.
»Blut«, sagte Cameron leise. »Und hier auf der Pforte ist noch mehr.«
Ians Herz schlug so heftig, dass ihm übel wurde. Als Fellows in den Hof trat, um zu sehen, was los war, packte Ian ihn am Kragen und stieß ihn fast mit dem Gesicht in die Blutflecken.
»Gott im Himmel«, jammerte Fellows.
»Los, suchen Sie sie«, sagte Ian. Er riss Fellows hoch. »Sie sind doch ein Schnüffler, jetzt schnüffeln Sie mal.«
Cameron öffnete die Pforte und trat in die Gasse. »Mein Bruder hat recht, Fellows. Das ist Ihre Aufgabe.«
Hart legte Ian eine Hand auf die Schulter: »Ian.«
Ian entwandt sich ihm, konnte die Berührung nicht ertragen. Wenn Beth tot war …
Fellows wich zurück. »Er hat doch wohl nicht einen seiner verrückten Anfälle?«
»Nein.« Ian trat zu Cameron in die Gasse und zog Fellows am Kragen mit sich. »Finden Sie sie.«
»Ich bin doch kein Bluthund, Mylord.«
»Wau, wau«, sagte Cameron und bedachte Fellows mit einem bösen Grinsen. »Guter Hund.«
21
Beth schrie auf, als Mrs Palmer sie auf eine der harten Holzbänke stieß. Niemand war hier. Kein Küster, der den Boden wischte, und auch nicht der tattrige Pfarrer, der Thomas’ Stelle vor neun Jahren übernommen hatte.
Beth ergriff Mrs Palmers Handgelenk. »Lassen Sie mich nicht allein hier zurück.«
»Seien Sie nicht albern. Irgendjemand wird Sie hier schon finden.«
Mit all der ihr verbliebenen Kraft hielt sie Mrs Palmer fest. »Bitte bleiben Sie bei mir. Warten Sie, bis der Pfarrer kommt. Bitte. Ich möchte hier nicht allein sterben.«
Ihre Tränen waren echt. Der Schmerz wurde immer stärker, überrollte sie in Wellen. Würde Ian nachvollziehen können, wohin sie gegangen war? Würde er sie finden? Immerhin war er besessen von Details und äußerst klug, konnte komplexe mathematische Aufgaben im Kopf lösen und schwierige Vertragstexte Wort für Wort memorieren. Aber würde er auch diese Steinchen zu einem Mosaik zusammenfügen können?
Mrs Palmer seufzte, setzte sich aber dennoch mit raschelnden Röcken hin. Beth, die nicht mehr in der Lage war, sich allein aufrecht zu halten, sank gegen sie.
»Haben Sie Lily Martin getötet?«, fragte Beth im Flüsterton. Nun fürchtete sie sich nicht länger, denn wenn Mrs Palmer sie hätte umbringen wollen, hätte sie es längst getan. Die Frau hatte selbst Angst, und Beth hatte das bestimmte Gefühl, dass sie sich mehr vor Hart denn vor Inspektor Fellows fürchtete. Wenn Mrs Palmer Beth, die Frau seines geliebten Bruders, sterben ließ, würde ihr
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