Kein Lord wie jeder andere (German Edition)
Ian spürte die Verzweiflung des Bruders, war aber außerstande, ihm Trost zu spenden.
Macs Atelier war ganz anders, als Beth erwartet hatte. Mac hatte eine schäbige Zweizimmerwohnung in Montmartre angemietet, die aus zwei Wohnräumen im Parterre und einem Atelier im Obergeschoss bestand. Nie hätte sich Beth träumen lassen, dass ein Angehöriger der englischen Oberschicht so leben würde.
Auf ihr Läuten öffnete ein Mann von der Statur eines Faustkämpfers die Tür. Er hatte eisengraues Haar und hart blickende braune Augen. Erschrocken trat sie einen Schritt zurück und presste ihren Beutel an sich. Einen solchen Goliath hätte sie vielleicht bei einem Boxkampf oder einer Wirthausschlägerei erwartet, nicht aber an Macs Haustür.
Doch ganz offensichtlich handelte es sich bei diesem Mann um Macs Diener. Isabella hatte ihr bereits anvertraut, dass die vier Brüder ihre ungewöhnlichen Diener von der Straße aufgelesen hatten, was ihnen Zeit und Vermittlungsgebühren erspart hatte. Bellamy war Boxer gewesen und Curry ein Taschendieb, Cameron beschäftigte einen Roma und Hart den unehrenhaft entlassenen Schreiber eines Londoner Bankiers.
Sobald Beth ihren Namen nannte, verschwand das höhnische Grinsen auf Bellamys Gesicht. Während er sie die drei Treppen ins Atelier hinaufführte, wirkte er geradezu höflich.
Das Atelier nahm das gesamte Dachgeschoss ein, zwei riesige Oberlichter gaben den Blick auf den grauen Himmel frei. Und die Aussicht war atemberaubend. Über die Dächer von Montmartre konnte Beth hinunter bis ins Zentrum von Paris sehen und in der Ferne sogar die wolkenverhangenen Berge erkennen.
Mac stand auf einer Leiter vor einer gewaltigen Leinwand. Um den Kopf hatte er ein rotes Tuch gebunden, das ihn wie einen Zigeunerbaron aussehen ließ. In der Hand hielt er einen langstieligen Pinsel, während er düster auf die Leinwand starrte. Hände, Gesicht, Kittel und der Boden waren von Farbklecksen übersät.
Auf der hundert Zoll großen Leinwand waren die Umrisse einer Säule und einer nackten, molligen Frau zu erkennen. Mac starrte konzentriert auf die Falten des Überwurfs, in den sein Modell gehüllt war und der Scham und Busen freiließ. Die Frau bewegte sich unruhig.
»Halt endlich still!«
Als die Frau Beth bemerkte, hörte sie mit der Zappelei auf. Mac sah sich um und hielt ebenfalls inne.
Ian trat aus dem Schatten hervor. Sein Haar war zerwühlt, als wäre er unzählige Male mit den Händen hindurchgefahren; womöglich hatte er sich, wie so oft, auch die Schläfen massiert. Sein goldener Blick streifte Beth, bevor er ihr den Rücken zuwandte und aus dem Fenster sah.
Beth räusperte sich. »In deinem Hotel sagte man mir, dass ich dich hier finden würde, Ian.«
Ian drehte sich nicht zu ihr um.
»Cybele«, blaffte Mac, »geh nach unten und lass dir von Bellamy einen Tee geben.«
Cybele quiekte und sagte dann mit schwerem französischem Akzent: »Isch geh nisch zu Bellamy. Er misch gucken an, als will er misch erdrosseln.«
»Warum nur?«, murmelte Mac leise, doch Beth fuhr ihm ins Wort.
»Schon gut, ich bin nur gekommen, um mich zu entschuldigen. Bei euch beiden.«
»Wofür zum Teufel wollen Sie sich denn entschuldigen?«, fragte Mac. »Fellows ist an allem schuld, verdammt. Er hatte Order, uns fernzubleiben.«
Beth ging aufs Fenster zu, ihre Hand krampfte sich um den Griff ihres Beutels. In der Scheibe spiegelte sich Ians Antlitz, das vollkommen ausdruckslos schien.
»Du hattest recht, Ian«, sagte sie sanft. »Ich hätte den Inspektor sofort davonjagen sollen. Und nur weil ich neugierig war, habe ich es nicht getan. Mrs Barrington hat immer gesagt, die Neugier sei mein schlimmstes Laster. Ich hatte kein Recht, meine Nase in deine Familienangelegenheiten zu stecken, und dafür bitte ich aufrichtig um Entschuldigung.«
»Charmant, charmant«, höhnte Cybele.
Mac sprang von der Stehleiter, warf Cybele einen Morgenrock zu und zog sie am Ohr aus der Tür. Unter lautem Gekreisch wurde Cybele hinausbefördert. Das Schlagen der Tür brachte die Wände zum Beben, dann wurde alles still.
Während Beth sich zu sammeln versuchte, betrachtete sie das Gemälde. Die Frau auf dem Bild schaute auf eine mit Wasser gefüllte Wanne. Wasserlachen auf dem Boden ließen darauf schließen, dass sie ein Bad genommen hatte. Über den Rücken hielt sie ein dünnes Tuch, als wollte sie sich abtrocknen.
Wie Isabellas Bild war auch dieses sinnlich und erotisch, dennoch stach Beth der Unterschied sofort ins
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