Kein Lord wie jeder andere (German Edition)
verdächtigen Sie keinen von ihnen?«
»Alle sind ehrbare Männer.«
»Ist ein Bordellbesuch etwa ehrbar? Das frage ich Sie als Pfarrerswitwe.«
»Die Männer waren Junggesellen. Es gab bei ihnen zu Hause keine Ehefrau, der sie das Herz damit gebrochen hätten. Mr Stephenson und die beiden Offiziere waren vollkommen überrascht, als sie von dem Mord erfuhren, und konnten überzeugend darlegen, wo sie zur Tatzeit gewesen sind. Keiner hatte sich Sally Tate auch nur genähert, und sie hatten das Haus an der High Holborn kurz nach Mitternacht verlassen. Sally Tate wurde gegen fünf Uhr morgens erstochen. Als die genannten Herren gingen, blieben Hart und Ian MacKenzie noch dort. Oh, ich meine, Eure Hoheit und Seine Lordschaft.«
»Und Ians Diener schwören, dass er um zwei zu Hause gewesen ist«, sagte Beth, denn das hatte Fellows ihr beim letzten Gespräch gesagt.
»Sie lügen.« Fellows beugte sich vor. »Die gemachten Aussagen ergeben für mich Folgendes: Hart MacKenzie lädt seinen Freund Stephenson und seinen Bruder Ian in die High Holborn ein, um einen netten Abend in Gesellschaft einiger Kurtisanen zu verbringen. Etwa gegen zweiundzwanzig Uhr setzen sich vier der Herren im Salon zu einer Partie Whist zusammen; es sind Hart, Stephenson, Thompkins und Harrison. Ian spielt nicht mit, liest stattdessen Zeitung. Laut Aussage von Major Thompkins setzt sich Sally Tate neben Ian und fängt ein Gespräch an. Nachdem sie eine Viertelstunde geplaudert haben, überredet sie ihn, mit ihr nach oben aufs Zimmer zu gehen.«
»Ian soll eine Viertelstunde geredet haben?«
Fellows lächelte matt. »Ich gehe davon aus, dass Sally die Unterhaltung zum größten Teil bestritten hat.«
Beth verstummte. Beim Gedanken, dass Ian das Bett mit einer anderen Frau geteilt hatte, stieg brennende Eifersucht in ihr hoch, doch damals hatten sie sich noch nicht einmal gekannt. Er war ihr zu nichts verpflichtet gewesen. Doch Eifersucht hatte nichts mit Vernunft zu tun.
Sie ließ sich alles noch einmal durch den Kopf gehen. Sally hatte sich eine Viertelstunde mit Ian unterhalten, doch sie konnte unmöglich die ganze Zeit versucht haben, ihn zu überreden, mit ihr aufs Zimmer zu gehen. Aus Erfahrung wusste Beth, dass es unmöglich war, Ian gegen seinen Willen zu etwas zu überreden. Seine Entscheidung, ob er mit Sally das Bett teilen wollte oder nicht, hatte von vorneherein festgestanden, und entweder wäre er sofort mitgegangen oder überhaupt nicht. Wenn Sally ihn also nicht hatte verführen wollen, worüber hatten die beiden gesprochen?
Beth holte tief Luft. »Und dann?«
»Die vier Herren blieben unten zum Kartenspielen. Nach Aussagen der Damen und des Personals ging keiner der anderen Herren hinauf. Nur Ian und Sally Tate waren oben.«
»Und nach Mitternacht sind alle gegangen?«
»Stephenson, Harrison und Thompkins hatten sich prächtig miteinander unterhalten und beschlossen, die Runde in Harrisons Haus fortzusetzen. Laut diesen drei Herren hat Hart sie begleitet, ist aber kurz darauf wieder gegangen. Um auf seinen Bruder zu warten, wie er sagte.«
»Und hat er das auch?«
»Mrs Palmer hat ausgesagt, dass Hart gegen eins zurückgekehrt sei und auf Ian gewartet habe, der um zwei heruntergekommen sei, woraufhin die Brüder zusammen gegangen seien.« Fellows lächelte. »Aber genau hier liegt der Haken. Eines der Dienstmädchen hat behauptet, Hart sei zwischendurch oben im Zimmer gewesen und wäre dann allein herausgestürzt gekommen. Auf gezieltes Nachfragen reagierte das Mädchen jedoch verunsichert und wollte nichts mehr beschwören. Doch nachdem Mrs Palmer mit dem Mädchen unter vier Augen gesprochen hatte, änderte sie ihre Aussage und behauptete, Ian und Hart hätten das Haus gemeinsam um zwei verlassen.«
Beth biss sich auf die Lippe. Fellows war kein Dummkopf, und das Umschwenken des Dienstmädchens wirkte verdächtig. »Was hat Ian dazu gesagt?«
»Ihren geschätzten Mann konnte ich erst zwei Wochen später befragen. Und da konnte er sich an nichts mehr erinnern.«
Beth spürte einen leichten Schmerz in der Brust. Ian konnte sich immer an alles erinnern.
»Und das war’s dann«, sagte Fellows. »Ich dachte, ich hätte genug Beweise, um Ian anzuklagen, doch der Oberinspektor hat mich vom Fall abgezogen. Er behauptete, ein Vagabund hätte Sally auf dem Gewissen, und zudem hat er einen Beweis gefälscht, um diese Behauptung zu stützen. Der Fall galt als gelöst.«
Nur mit Mühe hielt Beth ihre Gedanken zusammen. »Was
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