Kein Lord wie jeder andere (German Edition)
können. Wenn Ian bereit war, würde er schon zurückkommen. War er nicht noch jedes Mal zurückgekommen? Hart gab Beth die Schuld, das las sie in seiner Miene.
»Sie machen das goldrichtig, Madame«, flüsterte Katie beim Einsteigen in die Kutsche. »Er ist verrückt, ich sag’s doch.«
»Ich verlasse ihn nicht«, erwiderte Beth, und zwar laut genug, dass auch der Kutscher es hören konnte. »Ich habe in London Geschäftliches zu erledigen.«
Mit einem Seitenblick auf den Kutscher erwiderte Katie: »Natürlich, Madame.«
Als die Kutsche anfuhr, verspürte Beth einen Stich im Herzen, Kilmorgan würde ihr fehlen.
Auf dem Weg zum Bahnhof geschah nichts Außergewöhnliches, nur als der Kutscher das Gepäck ablud, tauchte Daniel plötzlich dahinter auf. Er hatte sich auf der Gepäckablage versteckt.
»Nimm mich mit«, platzte er heraus.
Beth wusste noch nicht so recht, was sie von Daniel halten sollte. Mit seinem rotbraunen Haar und den goldenen Augen war er eindeutig ein MacKenzie, nur sein Gesicht war anders geschnitten. Kinn und Augen wirkten weicher, was ihn sehr hübsch machte. Wollte man Curry glauben, war Daniels Mutter zu ihrer Zeit eine vielgerühmte Schönheit gewesen.
Das sieht unserem Lord Cameron ähnlich, so einen wilden Feger zu heiraten , hatte Curry gesagt. Hauptsache, der Alte ärgert sich.
Beth rührte es, wie Daniel versuchte, es seinem Vater gleichzutun. Um von ihm Anerkennung und Aufmerksamkeit zu bekommen. Doch leider reagierte Cameron nicht immer darauf.
»Ich weiß nicht, ob dein Vater damit einverstanden wäre«, sagte Beth vorsichtig.
Daniel sah enttäuscht aus. »Bitte, bitte. Weil Ian fort ist, springt Hart jedem gleich an die Gurgel, und Vater ist mürrisch und launisch. Ziemlich trübsinnig wird es werden. Und ohne Sie wird alles nur noch schlimmer.«
Und Daniel wäre mittendrin. Wahrscheinlich würde er sich widersetzen und wäre bockig, woraufhin Hart und Cameron noch strenger mit ihm umsprängen.
»Na schön«, sagte Beth. »Du hast nicht zufällig auch daran gedacht, eine Tasche zu packen?«
»Ne, aber ich habe noch Sachen in Vaters Haus in London.« Daniel machte ein paar Schritte und schlug Rad. »Ich bin auch ganz artig, versprochen.«
»Sind Sie denn von allen guten Geistern verlassen?«, zischte ihr Katie beim Kartenschalter zu. »Was wollen Sie denn mit diesem Teufelsbraten?«
»Er kann uns nützlich sein, außerdem tut er mir leid.«
Katie rollte die Augen. »Er ist eine Nervensäge, das ist er. Sein Vater sollte ihm mal gehörig den Hintern versohlen.«
»Für ein Kind zu sorgen ist nicht so leicht.«
»Haben Sie jemals Kinder gehabt?«
Die Frage versetzte Beth einen Stich ins Herz, doch sie ließ sich nichts anmerken. »Nein, aber ich kenne sehr viele Kinder.« Als der Stationsvorsteher an den Schalter trat, schenkte sie ihm ein freundliches Lächeln.
Daniels Billet wurde dem Kilmorgan’schen Konto angelastet; der Stationsvorsteher wirkte einigermaßen überrascht, dass Beth die Fahrscheine selbst kaufte und keinen Dienstboten geschickt hatte. Der Gedanke, dass Ihre Ladyschaft etwas für sich selbst kaufte, schien alle mit Schrecken zu erfüllen.
»Ich möchte auch ein Telegramm schicken«, sagte sie knapp und wartete, während der dienstbare Stationsvorsteher Stift und Papier holte.
»An wen, M’lady?«
»Inspektor Fellows«, antwortete sie. »Scotland Yard, London.«
17
Auch in der Einsamkeit fand er keinen Trost.
Ian sah dem reißenden Strom am Fuß der Schlucht hinterher, seine Stiefel waren schlammbesudelt, der Saum seines Kilts nass von der Gischt.
Es hatte eine Zeit gegeben, da war es ihm wie das Paradies vorgekommen, in Abernathys Schlucht zu fischen, umgeben nur von Weite, Wind und Wasser. Heute fühlte er sich leer und ausgelaugt.
Ganz allein war er auch nicht. Der alte Geordie saß stumm in der Nähe auf einem Felsen zum Angeln, die Rute in der wettergegerbten Hand. Vor langer Zeit hatte Geordie einmal als Stallbursche bei Ians Vater gearbeitet, doch dann hatte er sich zur Ruhe gesetzt, um abgeschieden in den Bergen zu leben, meilenweit von allen entfernt. Das Häuschen war winzig und heruntergekommen, denn Geordie war zu menschenscheu, jemanden einzustellen, der ihm bei Reparaturen half.
Kurz nachdem Ian aus der Heilanstalt entlassen wurde, war er zufällig auf Geordies einsames graues Steinhaus gestoßen. Damals war Ian ruhelos und wechselhaft gewesen, hatte es nicht ertragen können, von seinen Brüdern und den Dienstboten rund um
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