Kein Lord wie jeder andere (German Edition)
und stürmte nach draußen zu den Ställen. Cameron folgte ihm auf dem Fuß.
18
Anständige Frauen gingen nicht ins East End. Anständige Frauen riskierten auch keinen Blick aus der Kutsche, sondern zogen die Vorhänge zu, wenn sie durch Shoreditch und Bethnal Green fuhren. Mrs Barrington würde sich im Grab umdrehen, aber Thomas … Thomas hätte Verständnis.
Beths Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen, als die Mietdroschke die kleine Gemeindekirche passierte, in der ihr verstorbener Mann Pfarrer gewesen war. Obgleich die Kirche rechts und links von tristen, fensterlosen Bauten eingezwängt war, bewahrte sie sich dennoch ihre Würde. Auf dem Friedhof dahinter lag Thomas begraben. Der Grabstein, der an ihn erinnerte, war nur klein, aber einen größeren hatten sich Beth und die Kirche nicht leisten können.
Hinter der Kirche lag auch das Pfarrhaus, in dem Beth ein hoffnungsfrohes Jahr verlebt hatte. Zwei Türen weiter stand die Baracke, die Thomas für Obdachlose errichtet hatte, damit sie vom Wetter geschützt eine warme Mahlzeit einnehmen konnten. Die Gemeinde war dagegen gewesen, deshalb hatte ihr Mann den Bau aus eigenen Mitteln finanziert, und nach seinem Tod hatte sich ein reicher Wohltäter der Sache angenommen.
In der Hoffnung auf Antworten betrat Beth das baufällige Gebäude, in dem es nach altem Essen und ungewaschenen Körpern roch. Hinter ihr und Katie trottete Daniel, der mit seiner hoch aufgeschossenen Gestalt die Frauen überragte, aber deutlich nervös war.
»Sollten Sie überhaupt hier sein?«, zischte Daniel. »Mein Vater schlägt mich windelweich, wenn er erfährt, dass ich Sie in die Nähe eines leichten Mädchens gelassen habe, und weiß der Himmel, was Onkel Ian erst mit mir anstellt.«
Eine müde junge Frau saß auf einem harten Holzstuhl, die Beine vor sich ausgestreckt, den Rock bis zu den Knien hochgeschoben. Als Beth mit raschelnden Röcken eintrat, sah sie auf, blinzelte und sprang vom Stuhl. »Ich werd verrückt, die Missus.«
Beth ging auf die Frau zu und drückte ihre Hände. »Tag, Molly.«
Molly strahlte. Sie hatte braunes Haar, Stupsnase, Sommersprossen und ein herzliches Lächeln. Wie immer roch sie nach Tabak und Alkohol, der schwache Duft eines Männerparfüms hing in ihren Kleidern.
»Was treibt Sie denn her? Hab gehört, Sie haben ’nen Lord geheiratet und leben jetzt im Palast.«
»Neuigkeiten verbreiten sich schnell.«
»Was denken Sie denn? So was spricht sich rum.« Sie zwinkerte Daniel zu. »Haben Sie den dabei, damit ich einen Mann aus ihm mache?«
Daniel lief puterrot an. »Hüten Sie Ihre Zunge.«
»Da machst du mir aber Angst, Junge, echt.«
Sofort trat Beth dazwischen. »Daniel, sei still. Er beschützt mich nur, Molly. Auf der Straße ist es gefährlich.«
»Was Sie nicht sagen? Da bin ich platt. Also, was führt Sie her?«
»Ich möchte Sie etwas fragen.«
Beth führte Molly ein Stück von Daniel und Katie fort. Dann drückte sie ihr ein paar Geldstücke in die Hand und begann, Fragen zu stellen.
»Ich weiß darüber nicht viel«, sagte Molly. »Alles zu etepetete für mich, aber ich hab eine Freundin, die kann ich fragen. Die hat einen ihrer Freier geheiratet, die hat jetzt ausgesorgt. Die ist selbst ein bisschen etepetete, aber auf ’ne nette Art.«
Beth holte noch mehr Geldstücke hervor und erklärte Molly, was sie wissen wollte. Molly hörte aufmerksam zu und zwinkerte fröhlich. »Wird gemacht, Missus.« Sie verstaute das Geld sicher im Mieder. »Überlassen Sie das ruhig alles mir.«
Der Zug nach London brauchte viel zu lange. Unfähig still zu sitzen, durchstreifte Ian den Zug. Cameron kauerte in einer Ecke, las Sportzeitungen und rauchte Zigarren. Angeekelt vom süßlichen Tabakgeruch verbrachte Ian viel Zeit mit einem der Schaffner am Ende des Zuges auf der Rampe. Hinter ihnen entfalteten sich die Gleise, doch auch die Regelmäßigkeit der Schwellen und die sanften Kurven konnten sein Gemüt nicht besänftigen.
Als sie endlich im Bahnhof Euston einfuhren, sprang Ian aus dem Zug, kämpfte sich durch die Menge und pfiff eine Droschke herbei. Dort drinnen wartete er dann auf Cameron und Curry und schützte sich gegen unliebsame Blicke, indem er die Vorhänge zuzog.
Ian wies den Kutscher an, zum Belgrave Square zu fahren, denn Beth würde bestimmt dorthin zurückgekehrt sein. Mrs Barringtons Haus war immer ein sicherer Hafen für Beth gewesen, und Beth liebte sichere Häfen.
Nebel wirbelte durch die Straßen, als sie den eleganten
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